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250 Die ZeitzeugInnen kommen im Punkt überein, dass man ihnen die Jugend gestoh-
len habe. Als konkrete Gründe werden abgebrochene Ausbildungen, fehlende
Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung, Kriegsdienst oder Gefangenschaft
genannt. Insbesondere der letzte Erzähler JJ streicht als Konsequenz des Betrugs
an der Jugend das politische Desinteresse heraus, das die persönliche Wahrneh-
mung des Nachkriegsösterreichs prägte. Viele andere ZeitzeugInnen folgen in
ihren Darstellungen JJs Argumentation.
Auch im Erzählstoff zu den „gestohlenen Jahren“ fehlt nicht der Verweis auf die
Situation junger Menschen heute, denen es bei Weitem besser gehe. Retrospek-
tiv werden diese Jahre als defizitär, eben als „gestohlen“ oder „verloren“, bewertet.
Schröder interpretiert diese verbreitete rückblickende Wahrnehmung als öffentli-
chen Konsens, der sich insbesondere in den Jahren nach der Kapitulation gebildet
hat und sich zu einem gängigen Erklärungsmuster bzw. einer geläufigen Redeweise
entwickelte.339 Auch bei den obigen fünf Beispielen erscheinen die Bewertungen
der ErzählerInnen nicht zwingend als Ergebnis gründlicher Auseinanderset-
zung mit den eigenen Erlebnissen. An anderen Stellen in den Interviews werden
sogar nützliche Gewohnheiten, die man aus Krisenzeiten „mitgenommen“ habe,
erwähnt – was der defizitären Bewertung an sich ja widerspricht. In den meis-
ten Fällen kann also die Feststellung der „verlorenen Jahre“ oder der „gestohlenen
Jugend“ als gängiger Standard der betroffenen Generationen verstanden werden
und stellt somit in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg den zentralen Topos in den
lebensgeschichtlichen Erzählungen der Befragten dar.
Ein Teil der ZeitzeugInnen thematisiert in der lebensgeschichtlichen Erzählung
zwar die Kriegsjahre, aber nicht die Kriegserlebnisse selbst. Die Geschehnisse in
den Lagern, unterwegs oder an der Front werden von diesen Erzählern oft nur kurz
umrissen, und die eigene Lebensgeschichte während des Krieges reduziert sich auf
die Beschreibung einer Abfolge von Truppenstellungen oder Soldatentransporten.
Auch in anderen Studien wurde festgestellt, dass es ein Merkmal von Kriegserzäh-
lungen sein kann, dass diese als Versuch, die konkrete Wirklichkeit widerzuspie-
geln, und ohne Reflexion und Kommentar gestaltet werden: als Rekonstruktion
faktischer Abläufe.340
Einfache Soldaten erlebten und erinnern den Krieg auch aufgrund ihrer damals
unzureichenden Informationsmöglichkeiten kaum als Strategie und Taktik.
Zumeist erfuhren sie den Krieg als Figuren, die hin- und hergeschoben wurden.341
Vielfach spiegelt sich diese Wahrnehmung des Krieges auch in den Erinnerungs-
erzählungen zum Zweiten Weltkrieg wider: So werden die Kriegsjahre häufig in
Form ständig wechselnder geographischer Beschreibungen dargestellt. Bei diesen
Erzählungen vom „von Ort zu Ort In-Marsch-Gesetzt-Werden“ handelt es sich um
eine der wichtigsten Leitlinien in lebensgeschichtlichen Kriegserzählungen.
339 Schröder: Die gestohlenen Jahre. S. 897.
340 Schröder: Die gestohlenen Jahre S. 76.
341 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 121.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439