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Erlebnisse des Krieges – zumindest jene, die in den Interviews beschrieben wur-
den – wirken nach so langer Zeit verarbeitet, zurechtgerückt, akzeptiert.
Löffler stellte in ihrer Studie über die Erzählungen von Wehrmachtssoldaten
ebenfalls eine gewisse Distanz der Erzähler zu ihren Kriegserzählungen fest. Sie
interpretiert diese Haltung dahingehend, dass das Tragische und Schreckliche der
Lebenszeit im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg nicht gänzlich aus
der Lebensgeschichte ausgelöscht werden kann und daher mittels Bildern und
Formeln der Folklore auf Distanz gebracht werden. So würden Zusammenbrüche
und Konflikte des Lebensverlaufs und persönliche Fehler und Irrtümer sowohl in
glückliche und heitere Erfolgsstories und Heldengeschichten als auch in traurige
und unerhörte Geschichten umerzählt. Diese Prozesse der Folklorisierung orien-
tierten sich an Mustern der traditionellen Genres, mittels derer kommunizierbar
gemacht wird, was an Problematischem in die Biografie eingefügt werden soll.346
Nicht immer sind die traditionellen Genres in den Erinnerungserzählungen klar
erkennbar, häufig werden Erinnerungen über weite Teile in Form eines Berich-
tes verpackt. In Ansätzen sind sie dennoch zu erkennen. Im nachfolgenden Aus-
schnitt beispielsweise wählt der Erzähler selbst den Vergleich mit einer Geisterge-
schichte, wenn er beschreibt, dass man sich beim nächtlichen Proviant-Holen vor
dem russischen Feind fürchtete wie einstmals als Kind vor einem „Butz“347. Der
1924 geborene UU wählt hier eine humoristische Darstellung für seine Erinnerun-
gen an die Ostfront:
UU: Aber da [lacht] ich weiß nicht, man hat schon gedacht oder geglaubt,
man gewinnt, aber das hat man schon gesehen, dass, wenn man sich schon
1000 km zurück gezogen hat, das nicht mehr weiter gehen kann. […] Man
kann sich das gar nicht vorstellen, aber die Organisation war schon so gut.
Wenn das nur ein bisschen geklappt hat, dann hat man etwas zu essen bekom-
men. Aber wenn man natürlich irgendwie versprengt worden ist und es ist
so eine Einheit fast drauf gegangen, dann ist das fertig gewesen. Oder der
Feldkoch ist nicht mehr mitgekommen oder sowas … Da hat man schon in
irgendeiner Stellung eine oder zwei Wochen sein müssen … die Feldküche ist
ein Stück hinten gewesen. Da hat dann einer für sechs Mann in der Nacht
das Essen holen müssen. Und dann hat man nicht gewusst wohin, wenn kein
Stellungsgraben gewesen ist, weil nur Löcher gewesen sind. Dann bist nicht
mehr sicher gewesen im Dunkeln: Komm ich noch ins richtige Loch oder bin
ich schon beim Russen dort? Das war so wie, als man jung gewesen ist, wie
man sich vom Butz gefürchtet hat. [lacht] […] Ich hab noch eine Erinnerung,
als wir beim Angriff in einem Sonnenblumenacker … da haben die Russen,
bevor wir da gewesen sind, in den Löchern Stroh drüber getan. Da war ein
Russe in dem Loch und dann haben sie Stroh drüber gegeben. Dann sind sie
von hinten gekommen. Während die Unseren vorne gewesen sind, sind die
346 Löffler: Zurechtgerückt. S. 94.
347 Gespenst; Kobold.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439