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NN: [15 sec. Pause] Ja, ja, die Frauen hat man dann auch … Bei den Män-
nern kann man es eher verstehen. Aber die Frauen, da ist man schon arg vor-
gegangen. Man hat sie zum Teil, ah [räuspert sich; 3 sec. Pause] an den Haa-
ren genommen. Halt grob. [in gehobener Umgangsprache:] Und das haben
wir Gebirgstruppen nicht gemacht.
In NNs Erzählung wird von Anfang an die Bemühung um Rechtfertigung deutlich,
die sich in den Beteuerungen äußert, dass NN und seine Truppe nichts verbro-
chen hätten. Die Darstellung vermittelt den Eindruck, dass NN hier nicht alles
erzählt – oder besser: in Worte fasst, was er in diesen Wochen in Polen gesehen
und erlebt hat. Das verdeutlicht besonders der letzte Absatz, in dem er erst nach
einer längeren Pause zu erzählen beginnt und stockend andeutet, wie grob die SS
mit den Frauen umgegangen wären. Die Erzählung über die Vorgehensweise der
SS in Polen konnte ihm die Interviewerin nur nach mehrmaligem Nachfragen ent-
locken. Das Erzählverhalten NNs, sowie das Wissen um die Massaker, Vernich-
tungslager und zahlreiche andere Verbrechen der Wehrmacht, legen offen, dass der
Erzähler eben nicht nur ein An-den-Haaren-Reißen jüdischer Frauen beobachtet
hat. Die Tatsache, dass NN diese Erfahrungen auf die Frage, was ihn bis heute noch
beschäftigen würde, hin beschreibt, zeigt deutlich, welche psychischen Belastun-
gen diese Kriegsverbrechen auf der Täterseite bis ins hohe Alter darstellen können.
Einen weiteren wichtigen Aspekt des Krieges, der sowohl die Psyche als auch die
Physis der Kriegsüberlebenden betrifft, stellen Verletzungen dar, die das restliche
Leben der Männer prägten. Dem 1924 geborenen IJ wurde im Alter von 19 Jah-
ren ein Bein amputiert. Diese Behinderung stellt in seiner lebensgeschichtlichen
Erzählung nachvollziehbarerweise eine der Erzählleitlinien dar und bestimmte
seinen weiteren Werdegang maßgeblich. In seiner Retrospektive auf die psychi-
schen Belastungen, die der Krieg für ihn bedeutete – eingangs verglichen mit den
Jahren der französischen Besatzung im Montafon –, spricht er abschließend auch
seine Verletzung an:
IJ: Aber wenn ich vergleiche mit Russland, dann ging es uns hier schon besser.
So schlimm war das da bei uns nie. Schlimmer war die Zeit eben der Rückzüge
in Russland. Das war einfach eine schlimme Zeit. Man wusste nie, von einer
Nacht auf die andere, kann man da bleiben, muss man fort gehen. Damit hab
ich diese Zeit nicht so schlimm empfunden. Vielleicht jemand, der daheim war
immer, der hat das wahrscheinlich schlimmer empfunden, wie ich. Da war’s
immer schön ein Bett zu haben. Ich denk mir oft, lange Jahre hin noch denk
ich mir, wenn wir abends zu Bett gehen, wie schön ein sicheres Bett zu haben.
Wie schön ist das, nicht. Gegenüber, wenn man nicht weiß … erstens primitiv
in einem Dreckloch drin liegen oder eine Pritsche irgendwo. Oder man weiß
nicht, wird man in der Nacht geweckt oder nicht geweckt. Kann man schlafen,
kann man nicht schlafen. Diese Unsicherheit, möcht ich sagen, das war die
letzten Monate in Russland, das war schlimm. Und das wie gesagt, da hat
man schon nicht gewusst, kommt man nach Hause, kommt man nicht mehr?
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439