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die abgefroren gehabt. Und dann haben die nackten Beine herausgeschaut,
sind sie gekommen mit der Zange und haben den Stumpen abgezwickt. Und
dann haben sie das wieder verwachsen lassen müssen. Und da hast du dir
gedacht, so viele Leute, und die kommen nicht mehr heim … Da kannst du
froh sein, wenn du noch heimkommst, da. So hat das ausgeschaut. […] Und
die, die da in 14 Tagen, drei Wochen wieder gesund gewesen sind, die haben
noch da bleiben müssen, die sind wieder in den Einsatz gekommen, ist klar.
Und ich bin da halt schon … Der Einschuss ist schon ziemlich zu gewesen,
der Ausschuss hat noch geeitert hinten am Rücken. Habe ich halt da am Arzt
vorbei marschieren müssen, da. Der hat das entschieden, ob du in die Heimat
kommst, oder wieder an die Front. Und ich bin halt zweieinhalb Jahre nicht
mehr daheim gewesen. Und dann bin ich halt da bei ihm gewesen. Und dann
fragt er da halt, halt, hin und her, und ich wär halt auch schon frontreif gewe-
sen wieder. Fragt er, „wann waren Sie das letzte mal zuhause?“ Und dann hat
er ein Auge zugedrückt und ich bin nach Brünn gekommen, da. Und das war
meine Rettung. Unsere Einheit ist dann weiter nach Stalingrad gekommen.
Diese schön in sich abgeschlossene Erzählung folgt dem Bogen einer Vorge-
schichte, des Höhepunkts in Form der Verwundung und des Auskurierens und
schließlich des glücklichen Endes, im Rahmen dessen der Erzähler aufgrund einer
Schussverletzung und dank eines wohlgesonnenen Arztes nicht nach Stalingrad,
sondern Richtung Heimat geschickt wird. Stalingrad wird vom Erzähler implizit
und unkommentiert einem Todeskommando gleichgesetzt, das verdeutlichen die
nachfolgenden, hier nicht dargestellten Ausführungen.
Der 1914 geborene VV spricht im nachfolgenden Ausschnitt einen weiteren, häu-
fig thematisierten Aspekt des Krieges an: Beinahe alle Zeitzeugen erzählen von
tage- und wochenlangen Märschen bei schlechter Verpflegung:
I: Können Sie sich da erinnern an den Polenfeldzug, irgendein Erlebnis?
VV: Ja, wir haben am 12. September haben wir den ersten Angriff gehabt.
Gegen ein Regiment sind wir ein Bataillon gewesen. Da hat man schon ein
bisschen blöd dreingeschaut, wenn es auf der Höhe gleich den einen oder ande-
ren erwischt hat, hat man gesagt: „Die armen Hunde.“ Und später hat man
dann gesagt, „ja, denen ist es einmal gut gegangen, die hat es gleich erwischt“.
Es ist halt so gewesen. Und marschiert ist man halt 60, 70 Kilometer ist das
mindeste gewesen, was man am Tag marschiert ist. Einmal 104 Kilometer an
einem Tag. Da ist man Tag und Nacht unterwegs gewesen. Da waren so Tele-
graphenstangen an der Straße, rechts. Und da ist man eingeschlafen, und bis
man an den nächsten Masten gekommen ist, hat man schon wieder geschlafen
[lacht]. Ist man wieder gegen die Stange gelaufen. Und natürlich, die Pferde-
wärter haben es noch schlimmer gehabt. Die haben noch füttern müssen. Das
ist verrückt gewesen.
I: Das klingt so.
VV: Aber eben, ist halt eben Krieg gewesen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439