Seite - 260 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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260 RV: Wie ihr nichts zu essen gehabt habt, tageweise nichts …
VV: Ja. Tageweise haben wir halt eben Rüben und Kohlköpfe ausgerissen.
Tageweise … bist du mit dem Essen nicht nachgekommen. Aber wenigstens
haben wir dieses Zeug gehabt [lacht]. Aber eben, diese Narren-Märsche, das
ist ja verrückt gewesen.
Hunger, mangelhafte Versorgung und teils übermenschliche Anstrengungen ste-
hen im Vordergrund vieler Erzählungen. VV erzählt, dass man die am Anfang
des Krieges gefallenen Kameraden mit zunehmender Kriegserfahrung beneidete,
da sie sich die später folgenden Qualen erspart hatten, während die überlebenden
Soldaten niemals wussten, ob sie je wieder heimkehren könnten.
Die hygienschen Verhältnisse in den Lagern und Lazaretten stellen schließ-
lich einen weiteren und im Rahmen dieser Analyse letzten zentralen Aspekt der
Beschreibung der Schrecken des Krieges dar. Die Erzählung des 1927 geborenen JJ
widmet sich Erinnerungen an das Lazarett:
JJ: Wir sind da in dem Polen unten gewesen. Wir sind dann aber alle erkrankt.
Wir haben die Ruhr gehabt. Und das Wasser haben wir dann nicht vertragen.
Und das ist eine furchtbare Sache gewesen. Da bist du so schwach gewesen.
Da hast du überhaupt nichts mehr tun können. Und man muss sich vorstel-
len, es ist nicht gerade appetitlich. Da hat es ja diese Latrinen gegeben. Eine
Latrine ist nichts anderes als ein … da ein Balken, und du hast in die Grube
hinunter gesehen. Die hat man dann schon ein bisschen mit Kalk desinfiziert.
Aber schon 20 Meter vor dieser Latrine ist der ganze Boden blutverschmiert
gewesen. Weil keiner es mehr bis dort durchgehalten hat. Und überall bist du
in diesen blutigen Scheiß hinein gekommen. Alles hat nur geschissen und alles
… sie haben uns dann abziehen müssen, so dass wir dann heim sind und zum
Heimfahren in diesen Viehwaggons. Zum Teil, wenn diese offen gewesen sind,
ist auch so eine Latte da gewesen. Dann hat man einander gehalten, dass
der wieder hinausscheißen konnte. Sonst hast du in eine Konservendose hin-
eingeschissen. Das hast du dann hinaus geworfen. Gestunken hat es überall
grausig. Da bist du ja mit kaum 40 Kilo bist du ja zurück gekommen. Bist du
dich langsam wieder erholt hast. Und da wäre ich an und für sich … dann
hätte ich gleich wieder einrücken müssen.
Die extremen Umstände, die JJ hier beschreibt, werden auch von anderen Zeitzeug-
Innen erwähnt, vielfach in Bezug auf die Gefangenen-Lager in der Sowjetunion.
Krankheiten wie hier die bakteriell übertragene Ruhr werden immer wieder in den
Erinnerungserzählungen der ehemaligen Soldaten thematisiert. Als Folge dieser
Erkrankungen, aber auch als Konsequenz der extremen körperlichen Anstrengun-
gen sowie der mangelhaften Ernährung und immer wiederkehrender Hungerpha-
sen wird von den Erzählern gerne ihr Körpergewicht bei der Heimkehr ins Mon-
tafon angeführt: JJ berichtet, nur noch 40 Kilogramm gewogen zu haben, andere
Zeitzeugen unterbieten diese Angaben sogar noch.
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439