Seite - 267 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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Ah.“359 Ja und eines Tages sind sie dann halt tot da gelegen. Das ist Tatsache.
Man hat schon einen Willen gebraucht. Man hat schon … durfte sich schon
nicht gehen lassen.
Auch STs Erzählung stellt die extremen Bedingungen in der Gefangenschaft dar.
Er beschreibt einen Marsch, bei dem das Zeigen einer Schwäche unmittelbar mit
dem Tod bestraft worden wäre, er erzählt von der mangelnden Versorgung mit
Wasser und Nahrung, schildert die Zubereitung dünner Suppe in Benzinfässern
und erwähnt schließlich noch eine Erkrankung. Die Bemerkung „Ich habe mich
nie aufgegeben. Ich habe das hundertprozentige Gefühl immer gehabt, ich komme
wieder heim“ sowie der Hinweis auf jammernde Kameraden, die sich gehen ließen
und schließlich starben, verkehren die Geschichte des Gefangenen, der aufgrund
seiner vormaligen kriegerischen Tätigkeit in Gewahrsam genommen wird, in jene
eines Helden, der auch unter härtesten Bedingungen die Hoffnung nicht aufgibt
und überlebt. In diesem Sinne handelt es sich bei STs Darstellung um das Muster
einer Erfolgsgeschichte – wie sie auch bei anderen ehemaligen Kriegsgefangen aus
dem Montafon zu finden ist.
Im Vergleich der Erzählungen über die Gefangenschaft mit dem vorhergehenden
Kapitel über die „Schrecken des Krieges“ kann festgestellt werden, dass sich die
beiden Erzählstoffe in vielerlei Hinsicht ähneln. Sowohl in den Kriegserzählungen
als auch in Bezug auf die Gefangenschaft werden dieselben Aspekte in den Vor-
dergrund gestellt: die psychischen und physischen Leiden, letztere in Form von
Erzählungen über harte Arbeit, große körperliche Anstrengungen, Hunger oder
mangelnde Hygiene. Diese zahlreichen Parallelen, die die Leiden, aber auch die
Leidensfähigkeit der Erzähler fokussieren, verdeutlichen das Selbstbild des Opfers,
das die Erzähler retrospektiv von sich konstruieren. Wo im Krieg das „Hin- und
Hergeschoben-Werden“, mangelnde Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungs-
spielräume vermittelt werden, da setzen sich diese Themen auch in den Erzählun-
gen über die Gefangenschaft fort – das geht soweit, dass einige Ausschnitte aus
dem Zusammenhang gar nicht erkennen lassen, ob es sich in der Erzählung nun
um das Leben als Soldat oder aber als Gefangener handelt. Schon die Darstellun-
gen der Kriegserlebnisse, aber noch viel mehr die Erinnerungserzählungen über
die Kriegsgefangenschaft stellen die Täterrolle der Soldaten (noch dazu auf der
Seite des Aggressors) völlig in den Hintergrund, berühren daher weder soziale
Tabus wie Töten, Massenmord oder Kriegsverbrechen (hier wird von allen Erzäh-
lern einhellig auf die SS verwiesen), noch moralisch schwierige Fragestellungen
wie etwa Sinn und Ziel des Krieges. Die Zeitzeugen wählen gezielt diesen kleinen
Ausschnitt aus ihrem Kriegserleben aus, weil er für sie ihren Familien um Mitmen-
schen gegenüber der einzig sozial vermittelbare ist. Wo im Laufe der Darstellungen
moralische Grauzonen berührt werden, da kommen andere Strategien, wie etwa
die mehrfach erwähnten Rechtfertigungsgeschichten, zum Einsatz.
359 Und ich komme eh nicht mehr heim.
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439