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272 der die Tür auf, und mein Bruder … 185 war er groß, ist der unter der Tür
gestanden. Da ist natürlich alles aufgesprungen. Der Vater ist hinter der Tür
gesessen, der hat nicht mehr gewusst, was los ist.
BX ♀, geboren 1930:
BX: Der älteste Bruder ist dann anno 41 schon gefallen. In Russland. In Minsk.
Wo sie heute miteinander Spiele machen, Unsere und die Russen. […] Dort
ist er gefallen. Der Zweite ist noch lange in Gefangenschaft gewesen. Der ist
bei der Flak gewesen, ist jetzt aber auch tot. Und der jüngste Bruder ist anno
43 eingerückt, ein paar Wochen Ausbildung damals. Nach Griechenland hin-
unter. Nach einem Jahr ist er das erste Mal in den Urlaub gekommen. Da bin
ich 13, 14 Jahre alt gewesen. 13 Jahre. Da haben wir noch keine Straße auf
den Berg hinauf gehabt. Am Gaschurnerberg ist damals noch nicht einmal …
noch kein Strom, keine Straße. Nichts haben wir gehabt. Und dann begegnet
mir ein Soldat. Ich habe ihn nicht mehr gekannt.
I: Hast du ihn nicht mehr gekannt.
BX: Nein. Dann dreht er sich um. Und dann sagt er: „Des isch glob i
d’Schwöschtr.“363 Ja, so ist das gewesen.
Die Heimkehr der Väter, Ehemänner, Söhne, Brüder stellte ein einschneidendes
Erlebnis im Leben der Frauen (sowie auch der Heimkehrenden selbst) dar. Die
Wichtigkeit dieses Ereignisses spiegelt sich in der Ausführlichkeit der Darstellun-
gen wider, deren Details sich durch das wiederholte Erzählen der Anekdote zu
einer festen Geschichte, in der sogar direkte Reden oder Dialoge wiedergegeben
werden können, geformt haben. KK findet in ihrem Erzählrepertoire gleich zwei
Geschichten zum Thema: Ihr wurde die Heimkehr des Vaters vom Ersten Welt-
krieg offenbar ebenfalls häufig beschrieben, automatisch zieht sie vom Schicksal
ihres Vaters Parallelen zu jenem des Bruders nach dem Zweiten Weltkrieg. Dass
es sich hier um eine Mustererzählung handelt, in der die Auszehrung der Männer
durch den Krieg, das Unerkannt-Bleiben der so nahestehenden Personen sowie
der große Moment des Wiedersehens die zentralen Elemente der Schilderungen
darstellen, ist offenkundig. KK rekonstruiert die Dialoge in der Stube – sogar
die Scherze, die über die Nachbarin gemacht wurden – und vermittelt mit der
Beschreibung der Situation („185 war er groß, ist der unter der Tür gestanden.“ „Da
ist natürlich alles aufgesprungen.“) deutlich den Moment der großen Freude. Auch
BXs Darstellung beinhaltet – in der Kurzform – dieselben Elemente, rekonstruiert
die Worte des Bruders, durch die sie ihn erkannte, bricht aber vor der Schilderung
der Wiedersehensfreude ab.
Die Mustererzählung von der „unerkannten Heimkehr“ unterscheidet sich aus der
Frauenperspektive und aus der Männerperspektive kaum. Die oben genannten
Elemente sind in beiden Varianten vorhanden, die Bedeutung dieser Geschichten
363 Das ist, glaube ich, die Schwester.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439