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276 [zeigt die Situation mit Händen] Da sind die Bomben abgeworfen worden,
da, wir sind auf dieser Seite vor dem Haus … und auf der anderen Seite, da
muss es eingeschlagen haben. Da sind die Trichter gewesen, die Bombentrich-
ter in dem Hof. Und dann hinüber gehen, die „Maiggena“366 suchen, oje …
die „Maiggena“. Inzwischen hat sich der Staub ein bisschen verzogen. Wir
sind hinüber geklettert, über die Schutthaufen, und haben drinnen das Elend
gesehen gehabt, wie sie zum Teil unter den Trümmern drunter gelegen sind,
die „Maiggena“. Manche von ihnen haben noch reden können. Ich weiß noch,
ich habe die erste weggetragen gehabt. [unverständlich] Die habe ich nämlich
gut gekannt, wir haben kurz vorher noch Turnen gehabt. Und da die Profes-
sorin, die hat mich gerade noch gelehrt, da haben wir einen Überschlag, ein
Salto gemacht. Die „Maiggena“ haben noch zugeschaut. Und ein „Maiggi“, ich
weiß, die hat so einen Zopf gehabt, und die habe ich dann wegtragen wollen.
Und dann ist mir … Du wirst einfach … irgendwie … ich habe es fast nicht
überwunden. Zuerst habe ich gesehen, dass der Hinterkopf da fehlt, ein Bom-
bensplitter hat ihr das da weggefetzt gehabt. Also, Hirnaustritt auch schon,
das ist nicht schön gewesen. Eine andere ist weiter oben gewesen, der hat es
den Fuß halb abgetrennt gehabt, die ist da gelegen und hat geblutet und hat
geschrien. Und die anderen unten drinnen. Es sind ja 46 „Maiggena“ sind
ja da gestorben. Und manche haben ja stundenlang unter diesen Trümmern
drunter gestöhnt, „g’reart“367. Da hat man nicht einen Bagger gehabt um das
wegzunehmen. Da hat es das Stiegenhaus erwischt. Die sind eben nicht in den
Luftschutzkeller gegangen, die haben nicht gefolgt, und sind im Stiegenhaus
geblieben und das Stiegenhaus hat es getroffen. Und unter den tonnenschwe-
ren Stücken sind die nicht herausgekommen, oder. Und wir haben die nicht
weggekriegt. […] Dann hat es geheißen, „ja, Buben ihr könnt gehen“. Dann
haben wir gehen können, die „Maiggena“ haben wir derweil hinausgelegt,
und wir haben sie nicht mehr gekannt. Die sind ja voller Staub gewesen. Das
Gesicht haben wir ihnen ein bisschen abgeputzt, dass wir sie erkannt haben,
und der Reihe nach hat man sie dann dort hingelegt, auf die Wiese. […] Das
kann man sich nicht vorstellen. Das ist so ein Eingriff … von heut auf morgen,
innerhalb einer Sekunde … ändert sich das Leben so total. Man läuft herum
wie in Trance, irgendwie. Das kannst du nicht verstehen. Die Leute, die du
gekannt hast, die Professorin, die mir noch den Salto gelehrt hat, eine halbe
Stunde vorher. Und die ist dann elendig zu Tode gekommen, die haben sie
nicht heraus bekommen. Ich weiß nicht, das kann man nicht beschreiben. Das
ist so furchtbar, wenn du das miterlebst, oder. Innerhalb von einer Sekunde
alles anders. Wo dann erst der Nebel, der Staub sich verzogen hat, hat man
erst gesehen, wie katastrophal das Ganze aussieht.
Eindrücklich und ausführlich schildert JJ die Geschehnisse, die sich innerhalb
nur weniger Stunden zugetragen hatten, und deren schreckliche Bilder er – wie
366 Mädchen.
367 geweint.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439