Seite - 281 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 281 -
Text der Seite - 281 -
281
Das NS-Regime versuchte, seine Außengrenze zur Schweiz ab 1940 durch eine vier
Kilometer breite Verbotszone entlang des Grenzverlaufs zu schützen. Auch Ein-
heimischen war Zutritt zu dieser Zone nur eingeschränkt erlaubt. Von der Ill bis
zur Grenze durften sich ab diesem Zeitpunkt überhaupt keine auswärtigen Perso-
nen aufhalten.371 Diese Maßnahme schränkte die Bevölkerung mitunter stark in
ihrer Bewegungsfreiheit ein, da der Raum bis zu Grenze – und auch bis in Schwei-
zer Gefilde hinüber – vor allem aus wirtschaftlichen Gründen seit Jahrhunderten
durchaus sehr frequentiert war.
Der 1932 geborene WX schildert im nachfolgenden Ausschnitt die Situation im
Silvretta Gebirge, das aufgrund der Illwerke-Baustelle auf der Bielerhöhe beson-
ders streng bewacht war, was WX persönlich vor allem in seiner alpinistischen
Tätigkeit einschränkte:
I: Ja, ist während der Nazizeit auch auf den Berg gegangen worden?
WX: Nein. Ja. [2 sec. Pause] Nein, da kann ich ruhig nein sagen, weil die obere
Staumauer, die ist ja während des Zweiten Weltkriegs gebaut worden. Und da
waren sehr viele Strafgefangene beschäftigt, also Kriegsgefangene, aber auch,
ich sag jetzt Deserteure, die haben sie zwar eh alle gleich erschossen, aber
die sich halt irgendwie von der Deutschen Wehrmacht halt was zu Schul-
den kommen lassen haben, irgendwie. Die hat man auch … das waren die
Sträflinge. Und die haben hauptsächlich, die Kriegsgefangenen und Sträflinge,
haben diese Staumauer vom Silvrettasee gebaut. Und die sind natürlich scharf
bewacht worden, weil von der Bielerhöhe bist du, ich sag jetzt ein guter Läu-
fer ist in drei Stunden an der Schweizer Grenze. Und das waren ja junge
Leute, also die hätten sicher nicht einmal drei Stunden gebraucht. Also, wenn
Sportler dabei gewesen wären, die wären in zwei Stunden hinaufgesprintet
zu Grenze. Also, die Grenzen da waren scharf bewacht. Und da waren schon
die Aufpasser bei der Baustelle und natürlich danach im Ochsental, auf der
Wiesbadner Hütte. Wir haben da zeitweilig in Partenen – in Gaschurn waren
ja die nächsten schon – aber wir haben fast 20 Zöllner da gehabt.
WXs Erzählung stellt insofern eine Ausnahme dar, als die ZeitzeugInnen von der
Situation am entstehenden Silvretta-Stausee sonst kaum berichten, da diese Bau-
stelle völlig abgeschieden vom Lebensraum der MontafonerInnen war. Aus diesem
Grund bleiben die Verhältnisse oder einzelne Vorkommnisse in diesem größten
Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager von den Befragten relativ unerwähnt.
Stärker im Bewusstsein der Bevölkerung war der Grenzabschnitt von Gargel-
len bis Vandans, von dem immer wieder dramatische Berichte bis ins Tal hinun-
tergetragen wurden. Für Flüchtlinge stellte die Überschreitung an dieser Grenze
eine unvorstellbare Gefahr dar, da sie in Form zahlreicher neuer Posten und durch
erhöhten Personaleinsatz dicht bewacht war. Darüber hinaus stellte die Grenz-
überschreitung in körperlicher Hinsicht große Anforderungen an die Betroffe-
nen. Einzelne verzweifelten offenbar aufgrund dieser erschwerten Umstände noch
371 Kasper: „Durchgang ist hier strengstens verboten.“ S. 90.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439