Seite - 282 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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282 an ihrer Montafoner Ausgangsbasis, wie der 1935 geborene YZ erzählt. Als Sohn
einer Wirtsfamilie wurde er Zeuge eines Ereignisses, das er wie folgt beschreibt:
YZ: Ja, an ein schlimmes Erlebnis kann ich mich erinnern. Da waren natür-
lich die Flüchtlinge Deutsche. Und einmal ist ein älterer Herr gekommen, sehr
nett, aber der hat sich so ein bisschen abgesondert. Alle anderen sind so zusam-
men gesessen und haben so erzählt. Und manchmal hat man auch gesungen.
Meiner Mutter ist es auch mal gelungen ein kleines Fass Wein irgendwoher
aufzutreiben und dann hat es zum Abendessen ein Glas Wein gegeben. Da
haben die Leute vor Rührung, vor Seligkeit geweint. Weil mitten im Krieg ein
Glas Wein, das war der Gipfel. Ja, und dann ist dieser einzelne Herr gekom-
men und der hat sich dann – das hat mir meine Mutter dann erzählt, das hab
ich aber auch so ein bisschen mitbekommen – und der hat sich so unauffällig
immer erkundigt über die Landschaft erkundigt und wo verläuft da eigentlich
die Grenze in die Schweiz und so. Und dann war der eine Woche da und eines
Tages kommt das Zimmermädchen zu meiner Mutter und sagt, „Frau Z, der
Herr von Zimmer 7, der ist sonst immer früh aufgestanden und jetzt ist es 12
Uhr mittags, ich hab schon geklopft und der rührt sich nicht.“ Die Tür war zu.
Dann hat man die Türe aufgebrochen, dann hat er sich an einer Röhre der
Zentralheizung aufgehängt. Und dann ist am Tisch ein Papier gelegen und
Geld, „Sehr geehrte Frau Z, entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen Ungelegenhei-
ten bereite, aber Sie müssen wissen ich bin Jude.“ Das war alles. Das war seine
Erklärung. Und da ist meiner Mutter überhaupt einmal die Tragödie mit den
Juden zu Bewusstsein gekommen. Weil bei uns waren keine Juden, und man
hat wohl so von dieser „schlimmen Rasse“ gehört. Hitler hat ja da … Jeden
Abend war ja da im Radio oder was irgendeine Ansprache oder Bericht. Da
hat man dann diese jüdische Rasse verteufelt. Aber man hat das nie so mitbe-
kommen. Und dann ist meiner Mutter auch erst klar geworden, warum sich
der da immer so erkundigt hat, wo die Grenze ist. Da sind ja auch schlimme
Sachen passiert. Das hat sich hinterher herausgestellt, viele Juden sind tat-
sächlich über die Grenze in die Schweiz und haben viel Geld an so Bergführer
bezahlt, die die Leute auf Schleichwegen an den Hütten vorbei geführt haben,
immer so 10, 12 Leute. Die haben aber oft mal mit den Grenzer paktiert.
Weil das war ja strafbar. Und die haben hin und wieder einen ganzen Trupp
verraten und die an der Grenze aufgeschnappt. Und viele, die hinüber in die
Schweiz gekommen sind, sind in der Schweiz dann geschnappt worden und
nach Deutschland ausgeliefert worden. Ja, und unser Mann hat auch versucht
da hinüber zu kommen, hat aber schon vorher resigniert und hat sich das
Leben genommen.
Von seiner Erinnerung an den Gast, der sich aus Verzweiflung wenige Kilome-
ter vor seinem Ziel erhängte, schweift YZ auf einen anderen Aspekt der Fluchtge-
schichten ab: Zahlreiche Einheimische profitierten insofern finanziell von der nati-
onalsozialistischen Rassenpolitik und der geographischen Rolle des Montafons, als
sie sich als Schlepper über die Grenze anboten und so ein gutes Geschäft mit der
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439