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profitierte die einheimische Bevölkerung zwar von den Arbeitskräften, begann sie
mit der Zeit aber auch als Menschen wahrzunehmen und lernte die Männer und
Frauen schätzen. Der 1930 geborene OP erzählt:
OP: Ja, ja. Kriegsgefangene, ja. […] Hat man auch bekommen. Ja. Hat man
auch bekommen zum Helfen. Ja. Und am Sonntag sind dann die halt betteln
gekommen. Die Gefangenen.
I: Wo sind die gewesen?
OP: Im Gawatsch haben die ein Lager gehabt. […]
I: Was sind das gewesen? Von wo?
OP: Ukrainer, Russen. […]
I: Hat man mit denen reden können? Haben die schon Deutsch verstanden?
OP: Wir haben dann einen gehabt, den haben wir … aber den musstest du
draußen holen, am Morgen, weißt du. Den musstest du holen im Gawatsch.
Und am Abend mussten sie in den Gawatsch wieder. […] Haben wir einen
geholt, und das ist ein Schreiner gewesen. Ja, ganz ein feiner Mann. Und dann
haben wir ein Mädchen angenommen gehabt, von Dalaas her. Eben von dem
Bruder da, weißt du, von der Mama. Die sind irgendwie geflüchtet daher,
mit den Kindern. Die haben sich halt einfach gefürchtet in Dalaas dort. Und
dann hat der das Kind dann auf die Knie genommen, und es gedrückt, und die
Tränen sind ihm herunter geronnen. Und hat er eben gesagt, er habe daheim
auch so ein Mädchen, daheim lassen müssen halt. Ja. Ganz ein feiner Mann
gewesen. Und der hat den ganzen Stubenboden … sind raue Dreierbretter
gewesen, die hat er gehobelt, genietet, gefälzt, und den Stubenboden gelegt.
Super gemacht. Aber eben am Abend mussten wir ihn hinaus bringen, wieder
in den Gawatsch. [lacht]
I: Und wie ist es ihnen dort so gegangen? Also haben die zu Essen gehabt?
OP: Ja, schon mager. Schon mager.
Am Beispiel von OPs Darstellung wird deutlich, wie von den ZwangsarbeiterInnen
zunächst distanziert gesprochen wird. Die Wortwahl „hat man auch bekommen“
bzw. „den musstest du draußen holen“ erinnert stark an die Beschreibung einer
Ware und bestätigt die bereits weiter oben angesprochenen Erinnerungen ehema-
liger ZwangsarbeiterInnen an sklavenmarktartige Verhältnisse. Die Gefühlsregun-
gen des Mannes in Bezug auf das kleine Mädchen im Alter seiner Tochter sowie
die Tatsache, dass dieser die Stube qualitativ hochwertig sanierte, verschafften ihm
schließlich aber Sympathien seitens OPs Familie. Der Erzähler deutet an, dass
die Kriegsgefangenen betteln mussten und nur mangelhaft ernährt wurden, und
räumt damit Kritik an diesen Verhältnissen ein.
Den kulturellen Aspekt der Bekanntschaft mit den ZwangsarbeiterInnen bzw. den
kulturellen Austausch mit ihnen stellen etwa BX und ZZ in ihren Erinnerungser-
zählung dar. BX erinnert sich an das Schlachten von Schafen, bei dem ein französi-
scher Kriegsgefangener ihrem Vater half. Bei ZZ hinterließ die Beobachtung, dass
ein Mensch Schnecken essen könne, einen tiefen Eindruck.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439