Seite - 292 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 292 -
Text der Seite - 292 -
292 Ja, ja, wenn jetzt grad jemand auch einen Bub im Krieg gehabt hat, und der
Franzose hat da helfen müssen oder so, dann hat man vielleicht auch gedacht,
wenn es nur dem Unseren so gut geht, oder. Ich meine da, menschlich gedacht.
Eben und durch das, dass da halt eben ziemlich reden konnten mit den Fran-
zosen, hat man dann die da wieder abgezogen. Dann sind Serben gekommen.
QQ deutet sogar an, dass es den französischen Kriegsgefangenen im Montafon so
gut bei den Einheimischen gegangen sei, dass man den Einheimischen ausrichten
ließ, „man sei zu gut mit ihnen“, die Gefangenen versetzte und schließlich durch
serbische Kriegsgefangene ersetzte.
Nicht nur der historische Bezug zu Frankreich und der französischen Sprache
spielte in der guten Behandlung der Kriegsgefangenen – zumindest wird sie in
den Erzählungen als gut dargestellt – eine Rolle. QQ weist darauf hin, dass gerade
Familien, die selbst Angehörige im Krieg oder in Gefangenschaft wussten, den
Kriegsgefangenen mit Güte begegneten – in der Hoffnung, auch die eigenen Gat-
ten oder Söhne würden Güte erfahren. Vielleicht ist es durch diesen Umstand zu
erklären, dass zahlreiche Erzählungen von Begegnungen mit Kriegsgefangenen im
Montafon Mildtätigkeit und Hilfe gegenüber den Gefangenen thematisieren. Ein
weiteres Beispiel hierfür liefert die Erzählung des 1928 geborenen WW, ergänzt
durch die Kommentare seiner Frau UW:
WW: Da ist der „Leuewinter“384 gewesen, dort ist diese große Lawine herunter
an die Straße. Und da hat es Bäume gebracht. Und dann sind dann die da
herunter gekommen, und da hinaus. Und dann haben die [Kriegsgefangenen,
Anm.] dann da diese Bäume und diese Lawine da zusammenräumen müssen.
UW: Da hat man halt keine Ding gehabt, Motorsäge.
WW: Da sind dann so zehn, zwanzig sind dann hinaus gegangen. Und muss-
ten dann da arbeiten. Und dann weiß ich noch, ist ein alter Mann dabei gewe-
sen. Der Papa ist ja auch im Ersten Krieg eineinhalb Jahre in Gefangenschaft
gewesen. Und da ist ein älterer Mann dabei gewesen. Und der ist barfuß in so
Schuhen drinnen gewesen. Und dann hat man ja selber nichts gehabt. Und da
hat mir die Mama Socken gerichtet. Da haben wir da … das ist so aus Holz
gewesen, und so eine alte Tür hinaus. Und dass es die Aufseher nicht merken,
musste ich diesem Mann diese Socken hinaustun, dass er Socken hat. Und
das habe ich noch so gut in Erinnerung, dass ich diesem Mann diese Socken
hinaustun musste.
Der Erzählstoff der Mildtätigkeit gegenüber Kriegsgefangenen kehrt in den lebens-
geschichtlichen Erzählungen sehr häufig wieder und wird darüber hinaus in einer
musterhaften Form angesprochen, die die Darstellung WWs besonders klar skiz-
ziert. Erst werden die harte Arbeit der Kriegsgefangenen bzw. ihre schlechte Ver-
sorgung beschrieben und anschließend die Tatsache erwähnt, dass man „man ja
selber nichts gehabt“ hat. Durch diesen Hinweis wird der Wert der nachfolgend
384 Lawinenwinter.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439