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I: Wie wurden Sie verwundet?
CY: Beim Oberschenkel. Ein Granatsplitter von hinten bis in das Gelenk hin-
ein. Zuerst haben sie gemeint, sie müssten mir das linke Knie, das linke Bein
abnehmen. Aber sie haben es mir dann gerettet. In Florenz bin ich dann ope-
riert worden. Ich spüre gar nichts mehr. Aber drei große Schnitte haben sie
nur gebraucht, bis sie das gefunden und herausgebracht haben. Aber … wie
gesagt …
I: Aber, dann war wenigstens der Krieg für Sie vorbei, oder?
CY: Für mich ist der Krieg dann vorbei gewesen. Aber wieso? Ich bin ja noch
im Lazarett gewesen, in Florenz bin ich operiert worden und dann hinauf
bis in die Oberpfalz und dann nach Feldkirch. Und dann bin ich noch nicht
ganz geheilt gewesen, da haben sie mich telegraphisch schon wieder einberu-
fen nach Innsbruck und dann wäre ich nach Russland gekommen. Und dann
habe ich mich versteckt. Da bin ich nicht mehr gegangen und im Versteck
gewesen.
I: Wann hat man Sie einberufen?
CY: Am 11. Jänner anno 44, nein, 45. 45 am 11. Jänner, und dann hat es
gedauert bis zum 5. Mai. Am 5. Mai ist der Krieg fertig gewesen und bis dort-
hin habe ich mich versteckt. Zuerst bin ich bei der Mama … da habe ich mir
irgendein Loch gemacht unter dem Stall, da habe ich mich dann versteckt
und die Mama hat mich können füttern. Und die Mama hat mich erwartet
und dann später habe ich müssen … wie dann herunten kein Schnee mehr
gewesen ist, da habe ich dann müssen auf den Maisäß ziehen. Aber wir sind
immer vier, fünf gewesen. Und danach sind wir dann hinauf bis in die Berg-
landschaft. Wissen Sie, was eine „Barga“389 ist? Eine Barga. Da haben wir
eben in einer Barga gewohnt und da haben wir dann eben die Übermittlung
bekommen: „Der Krieg ist fertig, ihr könnt schon herunter kommen.“ Und da
sind wir dann herunter.
Gerade in diesen letzten Kriegsmonaten, als der Ausgang des Krieges bereits klar
schien, wagten besonders viele Männer zu desertieren. Bei CY spielte schließ-
lich auch die noch nicht verheilte Verletzung mit sowie das Wissen, dass es im
Montafon bereits eine Gruppe von Deserteuren gab, die von bestimmten Stellen
unterstützt wurden. Dazu zählten natürlich einerseits die eigenen Familien, die
die Männer mit Nahrung oder Kleidung versorgten. Andererseits wird von ver-
schiedenen Seiten von einer Familie berichtet, die die Deserteure aus politischer
Überzeugung unterstützte. Der 1929 geborene KP hatte als Sohn dieser Familie
den Auftrag, den Deserteuren gegebenenfalls Lebensmittel oder Informationen
zukommen zu lassen:
KP: Ja, so ist es dann weiter gegangen. Dann, noch im Krieg, hat das angefan-
gen, so 42, 43, da sind die Urlauber nicht mehr gegangen, nicht mehr einge-
rückt. Die haben sich versteckt. Und wie’s halt beim Däta gewesen ist, der hat
389 kleines Funktionsgebäude aus Holz; Stall für Heu oder Kleinvieh.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439