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296 einfach nicht „Nein“ sagen können. Da sind dann wieder welche gekommen
und haben gesagt dies und jenes und „könnten wir nicht da bleiben?“. „Ja ja,
ihr könnt hier bleiben“. Dann sind wieder zwei, drei von diesen bei uns gewe-
sen. Versteckte, gelt. Der Vater hat’s schon gewusst, wenn man die erwischt
hätte, dann wären die sofort ins KZ gekommen, weil da wär’s fertig gewe-
sen. Aus. Ende. Die Mama hat’s nicht überrissen [lacht]. Die Mama hätte
das nie gemacht, wenn sie gewusst hätte, was da … also, wie groß die Gefahr
ist das Leben zu verlieren. Dann sind die Partisanen, so haben sie geheißen,
die haben bei uns übernachtet und sind geblieben und haben gegessen. In der
Nacht sind sie dann weg und später waren sie dann wieder mal da. Wir hatten
dann oben ein Haus, da sind sie dann da gewesen. Drei oder vier beieinander.
Ich und die Schwester haben die versorgt. Da hat man halt wieder ein Bündel
aufgepackt und dann hat’s geheißen, jetzt müsst ihr wieder da rauf zu denen.
Dann ist man wieder mal an einem Nachmittag gegangen und hat denen das
Essen raufgebracht. So ist es halt dann weitergegangen.
Die Unterstützung der versteckten Männer, wie KP sie beschreibt, war jeweils nur
für einige Tage notwendig, da die Unterkünfte gewechselt wurden und die „Wald-
hocker“ im Sommer ohnehin auf den Maisäßen und in den berglandwirtschaft-
lichen Nutzgebäuden übernachteten. Die Tatsache, dass die Mutter der Familie
selbst nicht wusste, was hier vorging, unterstreicht die höchste Geheimhaltung der
Vorgänge.
Sowohl KP als auch CY sind Mitglieder derselben Erzählgemeinschaft, sie ken-
nen sich persönlich und: CY zählte zu jenen Deserteuren, die KP damals mit seiner
Schwester „versorgte“. Auch die im nachfolgenden Ausschnitt zu Wort kommende
VU ist persönlich mit den beiden Erzählern bekannt sowie selbst mit einem Mann,
der zweieinhalb Jahre im Wald versteckt war, verwandt. Es ist also anzunehmen,
dass die hohe Quote der desertierten und versteckten Männer in diesen Gemein-
den im inneren Montafon nicht unbedingt repräsentativ für andere Regionen ist,
sondern dass es sich hier um ein lokalspezifisches Phänomen handelt. Sowohl
in den historischen Entscheidungen als auch in den retrospektiven Erzählungen
spielte die Gruppenkonstellation eine große Rolle.
In einer anderen Situation als die Deserteure befand sich der bereits in den Kapi-
teln über das Schwarzschlachten und den Menschenschmuggel erwähnte Mein-
rad Juen, der 1942 im Rahmen seiner Festnahme untertauchte und sich bis zum
Kriegsende versteckte. Aufgrund seiner regional wichtigen Funktion als Händler
und Metzger konnte er sich während dieser Jahre mehr Präsenz leisten als die
Deserteure, da er die Möglichkeit der Bestechung hatte – während er vermutlich
zugleich erpresst wurde.390 Meinrad Juens Geschichte während des Zweiten Welt-
krieges als (Menschen-)Schmuggler, (Schwarz-)Händler und Schwarz-Metzger
findet ebenfalls in einigen lebensgeschichtlichen Erzählungen über die Situation
im Montafon während der Kriegsjahre Eingang und soll aus diesem Grund auch
390 Hessenberger: Menschen – Schmuggler – Schlepper. S. 147–175.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439