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302 gefunden haben, ja. Und ein paar „Dösli“397 noch, solche Fischdosen, glaube
ich, habe ich auch noch da gehabt. Am Morgen sind sie fort.
Ein letztes vereinzeltes Gefecht vom Silbertaler Kristberg auf die Klostertaler
Gemeinde Dalaas hinunter sowie die Begegnung mit zwei deutschen Soldaten auf
der Flucht in die Schweiz stellen recht typische Blitzlichter für die Erzählungen
von den letzten Tagen vor Kriegsende dar. Abgesehen von vergleichbaren Anekdo-
ten, erzählen die ZeitzeugInnen kaum je mehr über diesen historisch markanten
Einschnitt, und Einblicke in die emotionale Wahrnehmung werden so gut wie gar
nicht gegeben. Anzunehmenderweise ist diese Erzählform nicht das Ergebnis einer
bewussten Entscheidung der ZeitzeugInnen: Vielmehr standen für die Befragten
zu diesem Zeitpunkt andere, alltäglichere Überlegungen im Vordergrund, die sich
den Angehörigen im Krieg widmeten, der bevorstehenden Ankunft der französi-
schen Befreier im Tal oder auch einfach der Versorgung der Familie.
Auffallend in Bezug auf die Erzählungen vom Kriegsende ist, dass die meisten
Erzähler zum damaligen Zeitpunkt Buben oder Jugendliche waren. Ältere Män-
ner waren zumeist an der Front und Frauen thematisieren das Ende des Krieges
kaum. Es handelt sich also diesbezüglich um eine homogene Gruppe ungefähr
desselben Geburtsjahrganges, was sich in der Auswahl der Themen und in ihrer
Darstellung deutlich zeigt. Die Erzählungen von den letzten Gefechten, der Flucht
der NS-Funktionäre oder der Ankunft der ersten französischen Soldaten erinnern
häufig an eine Abenteuergeschichte – was wenig verwunderlich ist, denn für die
zumeist ehemaligen Hitlerjungen stellte die Politik selbst vor allem ein großes
Abenteuer dar. Die Buben passten sich wie im Spiel an die neuen Verhältnisse
an: Wurde bis vor Kurzem noch der HJ-Fähnleinführer verehrt, so galten nun die
französischen Soldaten in ihren Uniformen und mit ihrer fremden, interessanten
Sprache als Helden. Auch im nachfolgenden Ausschnitt, in dem der 1929 geborene
GH etwas ausführlicher seine Erinnerungen an das Kriegsende erzählt, werden
teils dramatische Ereignisse in Form eines Abenteuers für den Erzähler und seine
Freunde dargestellt:
I: Kannst du dich an das [Kriegsende] noch erinnern? Wie ist das gewesen?
GH: Ja, ja, gut. Gut, gut. Ich weiß schon, wie Inder … alle möglichen deutsch-
freundlichen Inder sind dann geflüchtet gekommen, von Bludenz herein. Und
ist halt, wo es dann da angefangen hat, Nacht oder gegen Abend richtig hell
draußen, dass da gekämpft worden ist, durch das Vorarlberg herauf da. Von
dort bis gegen Bludenz und so weiter. Und dann, ja, ja, da sind wir dann noch
hinaus und haben dann noch gesagt: „Die deutschen Soldaten, wo da immer
vorne her haben flüchten müssen, haben Autos stehen lassen dann in den
Gebüschen irgendwo. Dann ist man dort schauen gegangen, ob es nicht alles
Mögliche gibt. Eine Winde oder etwas, ich weiß noch, alles Mögliche, alles
Mögliche haben … Ich habe auch ein paar gute Freunde gehabt, da sind wir
397 Dosen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439