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CY bemüht sich sichtlich um eine anschauliche Darstellung, die er durch eine
Erläuterung spezifischer Begriffe, zahlreicher direkter Reden sowie der Erklärung
der Hintergründe zu erreichen versucht. Seine Erzählung entspricht einer typi-
schen Erfolgsgeschichte, die zunächst die Schwierigkeiten darstellt, die gemeistert
werden müssen, und abschließend ausdrücklich auf die Erfolge der Helden der
Geschichte verweist. CY lässt keinen Zweifel daran, dass die Hauptdarsteller tat-
sächlich Helden waren und sind („Wir sind ja Heimatverteidiger! Wir waren Hei-
matverteidiger!“) und dass es schließlich auf ihn und seine Kameraden ankam,
dass im Montafon „kein Schuss gefallen, und kein Feuer gelegt worden ist“ bzw. die
Mitglieder der SS gewarnt wurden „sie kämen im Montafon nicht mit dem Leben
davon“, wie der Erzähler theatralisch betont.
Nicht alle Darstellungen räumen den „Heimatverteidigern“ uneingeschränkt hel-
denhaftes Verhalten ein. Ganz allgemein wird ihre Leistung um den Schutz der
Bevölkerung durch die Entwaffnung flüchtender Soldaten und NS-Funktionäre
anerkannt, ihre persönlichen Beweggründe zur Ergreifung dieser Maßnahmen
werden in einzelnen Fällen aber auch kritisch hinterfragt. Der 1934 geborene CD
spricht im nachfolgenden Ausschnitt an, dass die „Heimatwehr“ mitunter gezielt
plünderte:
CD: Ja, ja, und dann ist auch das Kriegsende herangenaht. Die Truppen sind
immer näher gekommen, und näher. Es hat dann schon geheißen, sie seien
da im Allgäu draußen. Und die Amerikaner würden schon über den Brenner
herunter kommen, und so und so. Und dann hat schon langsam fast die Plün-
derung ein bisschen angefangen. Deutsche Offizierseinheiten sind lastwagen-
weise mit Lebensmitteln ins Montafon herein geflüchtet, und haben gemeint,
sie könnten da noch einmal den Krieg stoppen herinnen und so. Und ich weiß,
in Tschagguns am Bahnhof unten sind einige Lastautos gestanden mit Lebens-
mitteln. Und die haben sie dann wohl schwer bewacht und so. Und dann ist
die sogenannte Heimatwehr fast entstanden. Und unter anderem auch mein
Vater ist da auch gleich tätig gewesen. Die sind dann alle ausgerüstet wor-
den. Wo diese Gewehre her gekommen sind, weiß ich auch nicht. Ich weiß
nur, dass er Munition und ein Gewehr dann gehabt hat. Und die haben die
Tschaggunser Brücke unten gehütet, weil man die auch sprengen wollte. Und
irgendwie durch ein Manöver konnte man diese Wache von diesen Lastautos
ablenken. Und da hat man in einem Winkel drinnen eine Schießerei begon-
nen. Jetzt ist die Wache gleich dorthin. Und währenddessen haben ein paar
schon geklaut … schon diese Lastwagen geplündert. Und somit sind sie dann
wieder zu Lebensmitteln gekommen. Und je näher die heranrückenden feind-
lichen Truppen gekommen sind, haben sich die Deutschen verflüchtigt. Die
sind dann hinein geflohen in die Innerfratte. Und die St. Gallenkirchner sind
fast „dia Käckischta“400 gewesen. Die haben in der „Vallatscha“ drinnen einen
Stammblock in der Straße gehabt, mit MG dahinter. Und im Wald oben wie-
400 die Keckesten; die Dreistesten.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439