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312 Marokkaner dann da… da ist es ja im Frühling gewesen, wo die Schafe am
Abend heruntergekommen sind. Dann sind sie halt wieder diese Schafe holen
gekommen, die Franzosen. [lacht] Haben da nicht lange gefragt. Aber was hat
es danach eben? Kleine Entschädigungen hat es dann, glaube ich, gegeben.
Und die Marokkaner „mit denna Turbänder“402, die sind natürlich gefürchtet
gewesen. Ein bisschen unzivilisiert.
CZ: Man hat sich halt fast ein bisschen gefürchtet vor ihnen, obwohl sie nichts
getan haben.
AZ: Ja nicht nur fast, man hat sich schon gefürchtet vor diesen.
I: Ja, aber gemacht haben sie nichts oder?
CZ: Nein, nein, gemacht haben sie nichts.
AZ: Nein, nein, nicht gerade. Sie haben dann zwar die Hühner gestohlen. Und
Schafe, aber so weiters ist grad nichts passiert.
Die ZeitzeugInnen heben in ihren Beschreibungen vor allem die Aspekte des
Vandalismus in den Unterkünften (Schulen, Hotels oder andere öffentliche Ein-
richtungen) und der Beschlagnahmung von Waren in den Geschäften sowie der
bäuerlichen Produkte hervor. Insbesondere die marokkanischen Soldaten werden
als „primitiv“ und „unzivilisiert“ beschrieben, was BD mit seiner schwankartigen
Geschichte vom Soldaten, der den Lichtschalter abmontiert, um das Licht mit nach
Hause nehmen zu können, zu illustrieren versucht. Schließlich werden noch wilde
Feiern und der unberechenbare Gebrauch von Schusswaffen erwähnt.
Bei diesen Beschreibungen der Zerstörungen und Beschlagnahmungen durch
die französische Besatzung wird schnell klar, dass die Ängste der Bevölkerung kei-
neswegs existenzieller Art waren. Die Menschen selbst wussten, dass sie nichts zu
befürchten hatten, solange sie sich nichts zu Schulden kommen ließen und unauf-
fällig weiterlebten. IJ beschreibt mit dem Bild des im Zuge der Feierlichkeiten aus
dem Fenster geworfenen Geschirrs, dass die MontafonerInnen sich bemühten
wegzusehen – dankbar dafür, dass sie selbst verschont blieben, und in der Hoff-
nung, die Besatzungszeit gehe bald vorüber.
In vielen Erzählungen wird berichtet, wie sehr man sich beim Einmarsch der
Besatzung vor den Soldaten fürchtete. Zu diesem Zeitpunkt waren sich die Men-
schen wohl noch bewusst, dass das eigene Land sechs Jahre zuvor gemeinsam mit
Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, und befürchtete nun gewis-
sermaßen eine Rache des Gegners. BD stellt in seiner Erzählung fest, dass es mit
der Besatzung vor allem deshalb ein gutes Einvernehmen gab, weil diese angehal-
ten war, Österreich als Opfer des Deutschen Reiches zu betrachten und nicht als
Feind. Dieser Opfermythos, der im Nachkriegsösterreich jahrzehntelang seitens
Politik und auch Wissenschaft gepflegt wurde, wurde von der Bevölkerung gerne
in die retrospektive Geschichtsinterpretation aufgenommen. Er spiegelt sich – wie
schon in den Erzählungen vom Krieg, in denen vor allem die deutschen Soldaten
als Täter dargestellt wurden – indirekt auch in den Erzählungen von der Besat-
zungszeit wider. Wo man sich einige Jahre zuvor noch mit „Hitlerischen“ solida-
402 mit diesen Turbanen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439