Seite - 313 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 313 -
Text der Seite - 313 -
313
risiert hatte, da der „Anschluss“ an das Deutsche Reich als wirtschaftlicher Auf-
schwung empfunden wurde, da solidarisierten sich die EinwohnerInnen nun mit
den Besatzern.
Eine Reihe von Erzählungen betont das friedliche Miteinander von Besatzern
und EinwohnerInnen, das sich im Laufe der Wochen einspielte:
LM ♂, geboren 1941:
I: Und dann, deine Kindheit. Also du bist ja quasi in der Besatzungszeit da in
die Schule gegangen und …?
MN: Ich bin da acht Jahre in der Volksschule gewesen. Besatzungszeit sagst du
gerade. Die haben wir eigentlich als wunderschön erlebt. Weil da vor uns, das
ist das alte Spritzenhaus. Das hat man inzwischen halt ein bisschen umge-
baut. Und da sind die Franzosen da gewesen mit einem Haufen Autos und
LKW’s, und „Glump und Züg“403. Und die haben bei uns im Haus, die Offi-
ziere, gelebt, und gekocht. Und wir haben da immer Schokolade und Kekse
und Sachen bekommen, was man gar nicht gekannt hat von früher. Und die
haben geholfen, zu heuen, und haben mit dem LKW das Heu eingeführt usw.
Das ist also für uns als Kinder anno 46 bis anfangs 47 ist das … Ich kann
mich nur als gute Zeit erinnern. Was viele andere schlecht gehabt haben, aber
nachdem bei uns da die Offiziere gelebt haben, und die haben die Marokka-
ner, oder welche da dabei gewesen sind, halt ein bisschen im Zaum gehalten.
Und das ist für uns lustig gewesen. Dann haben sie ein Huhn geklaut und an
den Füßen angebunden unter den LKW’s drinnen. Und da ist für uns immer
etwas zu tun gewesen. [lachen]
EE ♂, geboren 1934:
EE: an das hab ich mich erinnern können, und auch wie die Franzosen nach
Partenen gekommen sind. In Schruns waren sie schon länger, aber da haben
sie noch ein paar Tage gewartet, bis dann der erste Jeep in Partenen vorgefah-
ren ist. Das kann ich mich noch gut erinnern. Wir haben dann auch Militär
… Halt in unserem Haus haben wir eine Dienstwohnung gehabt, und da war
ein Zimmer frei, da hat sich dann die Kommandatur eingerichtet. Und da hat
man mit den Franzosen … diskutiert … halt, diskutiert – sie haben einem halt
Schokolade gegeben. An eine Szene kann ich mich erinnern. Wir haben da
… Die Kampftruppe waren ja die Marokkaner bei uns, und die Marokkaner
sind immer zu meiner Mutter gekommen und haben sich irgendetwas kochen
lassen, oder. Spiegeleier, oder so. Und einmal bin ich halt auch in die Küche
gekommen und sitzt da ein Marokkaner oben und trinkt Lebensmittel, und
ich habe gesagt, „ich möchte ein Brot“. An die Szene kann ich mich heute noch
erinnern, da sagt die Mutter, „jetzt tun wir dann bald Mittag essen, jetzt gibt
es kein Brot mehr.“ Der Marokkaner geht, und kommt mit einem Wecken Brot
403 etwa: und vielem anderem.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439