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YY ♂, geboren 1923:
YY: Ich bin mit den Franzosen ganz gut übereingekommen. […] Eine Zeit
lang war es schwierig mit den Marokkanern.
I: Warum?
YY: Ja, das waren so ekelhafte Leute, gell.
I: Warum?
YY: Die haben halt eine eigene Religion, und das haben die gehabt, gell.
I: Ja, und das hat man gemerkt? Waren die anders, inwiefern?
YY: Ja, ja. Natürlich, der Franzose, der wo hauptsächlich als Besatzung da
war, der war schon kultivierter, gell.
WX ♂, geboren 1932:
WX: Als Kind, weißt du, bauscht man’s auf. Ich weiß, auf der anderen Seite,
wir haben dann … das hat aber die Deutsche Wehrmacht schon gemacht,
wenn wieder mal so eine Truppe da war. Ich weiß, ich kann mich erinnern,
da war einmal ein Pferderegiment da, da haben wir dann als Kinder da beim
Kirchplatz draußen, reiten dürfen. Die haben da guten Willen, sagt man
heute, gemacht und auch die Franzosen später. Ja, und wir haben natürlich
im Vermunt oben auch Besatzungsmacht gehabt und wir haben da gehütet,
mein Bruder und ich. Und da hat man uns eingebläut, ja … da waren Marok-
kaner oben stationiert: „Vor den Marokkanern ja in Acht nehmen!“ und man
hat dann damals gesagt, ich weiß auch nicht, das wüsstest du besser, ist da
was dran oder war da was dran, da waren anscheinend ziemlich viel Schwule
dabei und da hat man um die Buben Angst gehabt. Wir haben uns gedacht,
die sind da nirgends, die haben ja nicht klettern können. Wir sind dann auf
einen großen Stein raufgeklettert, wenn die gekommen sind. Und die Marok-
kaner waren die feinsten Leute. Wir haben die ersten Bananen, die haben
wir überhaupt nicht gekannt damals, von den Marokkanern bekommen. Die
ersten guten Keks haben wir von den Marokkanern bekommen. Wir haben
von denen, als Buben haben wir so ein Kraut, „Fara“404 hat man gesagt, haben
wir gemahlen und mit Zeitungspapier gewuzelt und geraucht. Alles Blödsinn.
Zigaretten hätten sie uns sogar angeboten, aber die haben wir eigentlich …
mir ist eh immer schlecht geworden. Aber das sind Erinnerungen. Da könnt
ich sicher noch lange erzählen, aber das ist sicher nicht interessant.
Die vier Ausschnitte verdeutlichen die Vielschichtigkeit der Vorurteile gegenüber
den besonders fremd erscheinenden, dunkelhäutigen Nordafrikanern. Bereits
zuvor sprach ein Zeitzeuge in einem anderen Ausschnitt davon, wie „primitiv“
die Markokkaner gewesen seien, dass sie dachten, mit dem Ausbau eines Licht-
schalters das elektrische Licht mit nach Marokko nehmen zu können. Auch in den
vorangestellten Ausschnitten zielen die Erzähler auf die Konstruktion eines Bildes
404 Farn.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439