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Organisation rund 20.000 Menschen, das waren etwa 9 % der Bevölkerung.411 Auf-
grund der unerwartet großen Zahl der Internierten beschloss der Nationalrat mit
Zustimmung der überraschend großzügig gestimmten Alliierten eine generelle
Amnestie für einen Teil der festgenommenen Personen, die sogenannten „Min-
derbelasteten“.412
Trotz der tendenziell großzügigen Haltung der „Besatzung“ hinterließen die Maß-
nahmen im Rahmen der Entnazifizierung beachtliche Spuren in den Erinnerungen
der ZeitzeugInnen. Den MontafonerInnen ist insbesondere das ehemalige Inter-
nierungslager im Bludenzer Bahnhofsareal, genannt „in der Mokry“, als Schreck-
gespenst der Entnazifizierung durch die Franzosen gegenwärtig. Die Darstellung
dieses Erzählstoffes ist dabei durchaus ambivalent: Einerseits wird von ungerech-
ter Bestrafung gesprochen, andererseits wird mit einem Hauch von Genugtuung
berichtet, wenn Einzelne als „Nazis“ abgeholt wurden und damit klar als Schuldige
für die Verbrechen der NationalsozialistInnen und den Krieg abgestraft wurden,
während man selbst unbehelligt blieb.
Der 1928 geborene WW bekam über seinen Cousin SW Einblicke in die Vor-
gänge „in der Mokry“. Er beschreibt die Internierungen als brutal und ungerecht:
WW: Wie der SW auch. Mein Cousin, Jahrgang 1922. Er kam nach dem Krieg
nach Hause. Er war 1,84 Meter groß. Vor dem Krieg war der Hitlerjugend-
führer. Er hat nichts Unrechtes getan, musste aber auch neun Monate in die
Mokry. […] Die Franzosen haben gesoffen, um zwei oder drei Uhr früh gingen
sie ins Lager und haben die Gefangenen geschlagen. In der Mokry in Bludenz.
Der SW war ein Bulle von einem Mann und sie haben ihn geschlagen. Der
hatte nichts zu lachen. Von Bürs der Bürgermeister war ein kleines, krank-
haftes Männlein. Der hat viel mitgemacht. Den hatten sie auf der Latte, der
wurde viel geschlagen.
Ein weiterer Zeitzeuge thematisiert die teilweise große Brutalität, mit der die fran-
zösische Besatzung gegen die Nationalsozialisten vorging. Der 1935 geborene YZ
erinnert sich an einen „fanatischen Oberst“, der aufgrund seiner gewalttätigen und
unangemessenen Vorgehensweise versetzt worden sei:
YZ: Und wie die Franzosen da einmarschiert sind, ein paar Tage danach ist
ein Rundschreiben an die ganze Bevölkerung gegangen, dass an jedes Haus
eine Einwohnerliste angebracht werden muss. Und dann ist ein Oberst Picard,
an den kann ich mich noch gut erinnern, der ist mit einer Lederpeitsche durch
den Ort gegangen, und hat diese Listen studiert. Eben auch um da irgendwel-
che Nazigrößen, die bekannt waren da heraus zu fischen. Schließlich hat man
411 Bundschuh, Werner: Das befreite Land – Die „Besatzungszeit“. In: Bundschuh, Werner u.a. (Hg.):
Wieder Österreich! Befreiung und Wiederaufbau – Vorarlberg 1945. Bregenz 1995. S. 59–112.
S. 74.
412 Feurstein: Wirtschaftsgeschichte Vorarlbergs von 1870 bis zur Jahrtausendwende. S. 48.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439