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326 dann den Ortsgruppenleiter Ganahl, das war ein Schustermeister und hat ein
Schuhgeschäft gehabt, war ein kreuzbraver Mann, aber halt ein Nationalso-
zialist. Aber dem niemand etwas vorwerfen hätte können, aber er war halt
der Ortsgruppenleiter. Und dann war noch ein Kommandant eines Arbeitsla-
gers in Bludenz, wo Kriegsgefangene interniert waren und da arbeiten haben
müssen. Und wahrscheinlich schlecht behandelt worden sind. Und dieser Chef
von dem Arbeitslager und der Ortsgruppenleiter, die sind am Bahnhof in
einem offenen Viehwagon ausgepeitscht worden. Muss man sich vorstellen.
Das waren diese ersten Truppen, die da waren, da waren so fanatische Leute
drunter. Aber diesen Picard, den hat man sehr schnell abgesetzt. Den hat man
strafversetzt nach Vietnam, hab ich später erfahren. Weil der sich also da fast
als Krimineller herausgestellt hat und das da eigenmächtig gemacht hat.
Wie schon im vorhergehenden Ausschnitt aus den Erzählungen WWs wird auch
hier bei YZs Ausführungen die Tendenz der Darstellungen klar: Die ErzählerInnen
bemühen sich, die unangemessene Gewaltbereitschaft der Besatzer zu beschreiben,
während sie von deren Opfern behaupten, sie hätten „nichts Unrechtes getan“ bzw.
man hätte ihnen „nichts vorwerfen können“. YZ bezeichnet sogar den ehemaligen
Ortsgruppenleiter als „kreuzbraven Mann, aber halt Nationalsozialist“ und deutet
damit an, dass eine Bestrafung seines Erachtens allein aufgrund seiner Position im
Dorf sowie seiner politischen Überzeugung nicht notwendig gewesen wäre. Mit
der Beschreibung einer Auspeitschung zeichnet YZ ein sehr drastisches Bild der
Bestrafung durch die Besatzer, dem er mit gewisser Genugtuung die Strafverset-
zung des Obersts nach Vietnam gegenüberstellt.
Der 1924 geborene IJ beschreibt in seiner lebensgeschichtlichen Erzählung – eine
der wenigen, in der immer wieder auch persönliche Emotionen angesprochen
werden –, welchen Eindruck der Anblick der internierten Nationalsozialisten bei
ihm hinterließ. IJ schildert ein Lager, in dem während des Krieges Kriegsgefan-
gene untergebracht waren, und in dem er nun plötzlich „Kriegskameraden“ hinter
Gittern sah:
IJ: Es gab auch ein Lager wo weiter, Ding, nur waren jetzt [lacht] früher waren
das Kriegsgefangene, die da in diesem Lager waren, um zu arbeiten, und jetzt
waren es dann deutsche Gefangene, die teilweise da mitgearbeitet haben. Das
war für uns Kriegsteilnehmer schon … zu sehen, wie unsere Kriegskameraden
da jetzt eigentlich hinter dem Stacheldrahtzaun waren, gelt. War ein bisschen
… War schon schmerzlich, eigentlich, nicht. Ich wusste ja auch aus meiner
Ding, wer hat ja freiwillig … Es waren sicher einige, die freiwillig eingerückt
sind, aber unsere Jungen, da sind ja die Wenigsten freiwillig … Sicher, man
hat Reklame gemacht, wenn man oft diese Filme gesehen hat, wenn man diese
Hitlerjugend da praktisch ins Feuer geschickt hat, die man vorher, fanatisch
gesagt hat, vaterländisch und weiß Gott, was alles mehr. Aber ich bin über-
zeugt, das waren ja nicht weiß Gott was, alle. Und die vielen Soldaten, die
dann eben da Gefangene waren, waren nicht alle begeisterte Soldaten. Sicher
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439