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330 IJ: Auch handwerklich mussten wir viel selber machen, weil wenn es etwas
zu reparieren gab, mein Gott. Ich weiß noch, als wir vom Krieg nach Hause
gekommen sind, das Haus war sehr schlecht beisammen. […] das Dach war
schlecht, da ist schon überall das Wasser, wenn es geregnet hat, rein gekom-
men. Die ganzen Waschschüsseln und Eimer hat man auf dem Dachboden
herumgestellt, wo es herein getropft hat. Damit es nicht bis in die Kammer hin-
einkommt, das Wasser. Dann wusste man, da muss man was machen. Dann
hat man halt in der Familie zusammen geholfen und hat gesagt, „Gut, wir hel-
fen jetzt zusammen. Es kriegt …“, haben wir das ausgemacht wir Geschwister
unter einander, „es bekommt jeder im Monat fünf Schilling Taschengeld und
das andere, was den Verdienst angeht, muss in eine Sammelkassa hinein kom-
men, damit wir die Reparaturen und so weiter machen können“. Und das ging
auch so weiter, bis mein Bruder dann geheiratet hat.
IJ beschreibt eine angesichts heutiger Wohnverhältnisse unvorstellbare Situation,
die alle Familienmitglieder gemeinsam mit dem Einsatz all ihres Vermögens zu
beheben versuchten. Der werthaltige Endpunkt dieser Geschichte sind nicht nur
die Folgen des Krieges, die sich in der Armut der Menschen äußerten, sondern auch
die Botschaft, dass mittels familiären Zusammenhalts wiederaufgebaut wurde.
Der „Wiederaufbau“ stellt einen zentralen Erzählstoff der Nachkriegsjahr-
zehnte dar, auf den auch an anderer Stelle noch im Detail eingegangen werden
soll. In Bezug auf die Armut der Jahre nach dem Krieg schwingt er als Thema im
Hintergrund immer mit. Der 1927 geborene JJ beispielsweise beschreibt, mit welch
einfachen Mitteln er nach seiner Eheschließung ein Haus baute:
JJ: Und ich habe da von der Mama her ein „Plätzle“416 gehabt, da, wo wir jetzt
da heraußen da sind. Da haben wir gesagt: da könnten wir da bauen. Und
das ist natürlich damals eine schwierige Zeit auch gewesen. Klar, du hast jetzt
nicht einfach können zu einer Bank kommen, einen Kredit bekommen. Das
hast du nicht. Du hast ja keine Bürgen gehabt und so weiter. Es ist einfach nur
mit einer Bausparkasse gewesen, und das ist nur die Bausparkasse Wüstenrot
gewesen. Über die haben wir ein bisschen ein Geld gehabt. Und dann bin ich
jahrelang vorher … habe ich angefangen, wieder Holz zum Beispiel zusam-
men zu tun. Ich habe von den anderen „Holzlose“417 bekommen, die sie nicht
benützt haben. Und bis ins hinterste Silbertal hinein sind wir zum Fällen, sind
mit den Fahrrädern hinein, auf deutsch gesagt, ohne dass man eine Motor-
säge gehabt hat, mit den Waldsägen, und haben das gefällt, und wieder froh
gewesen, wieder mal einen Balken, einen Balkonbalken, jetzt ist das da. Das
ist halt mühselig gegangen. Darum habe ich dann auch oberhalb, unten habe
ich es gemauert, und oberhalb ein Riegelwerk. Weil da habe ich das Abfallholz
und Zeug grad auch wieder verwenden können.
416 ein Grundstück.
417 Holzlos: bestimmte, einer (Bauern-)Familie zustehende Menge an Holz, die über den Stand Mon-
tafon verwaltet wird.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439