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336 das ist viel. Wenn man schon einen Marsch gemacht hat von so viel Stunden!
Im Dunkeln. Nein, die waren schon stabil.
Klar wird hier der werthaltige Endpunkt betont: „Nein, die waren schon stabil.“
Die Hauptfigur in DWs Erzählung ist sein Vater, der nach einem langen nächtli-
chen Marsch schließlich die doppelte Last trägt. Neben den großen Anstrengun-
gen, die die Schmuggler auf sich nahmen, wird in einigen Erzählungen auch das
unwegsame Gelände thematisiert, durch das die Schmuggler die gut bewachten
Wegstrecken umgehen wollten. Der 1919 geborene RR erzählt:
RR: Ja, ja. Früher haben sie halt auch das Geld im Winter ein bisschen mit
Holzen und im Sommer mit Schmuggeln verdienen müssen, mit Kaffee „us
am Prättiga her“423. Hat man hauptsächlich Kaffee vor dem Ersten Krieg her
geschmuggelt. […] Der Schwiegervater hat auch erzählt. Ist er auch einmal
herein beim „Partnuner See“, und hat beim „Förggili“ oben gesehen, dass es da
nicht rein ist. Da ist er durch das „Gamstobel“ hinauf, bis unter die „Sulzfluh“.
Ist ja ein furchtbarer Umweg gewesen. Und der herunter wieder. Und danach
ist er oberhalb wieder auf [unverständlich] heraus. In der Nacht. Und wollte
herunter, dort vom „Schwarzhorn“, „Kilkagrat“ herunter. Und dann ist dann
dort noch ein Seil gespannt. Und ist ja eine furchtbare „Steerisi“424 hinun-
ter, „a stotzige“425 darunter. Jetzt hört er jemanden gehen. Da hat man halt
noch genagelte Schuhe gehabt. Und reden. Sind zwei Finanzer ihm entgegen
gekommen. Und er hat umgedreht. Und sie haben ihn auch schon gemerkt.
Und ist dort drüber hinaus und hinunter. Da würden ja die ganzen Fremden
hinunterfallen, am Tag, wo er in der Nacht hinunter ist. Da hätten sie noch
einen Schuss abgegeben, einen Schreckschuss. [lacht] Ja.
Wie zuvor auch schon DW mit „Alprosen, Alprosen, Alprosen. Da sieht man kein
Loch und nichts“ beschreibt hier RR eingehend das Gelände, in dem sein Schwieger-
vater unterwegs war, als steile Steinhalden und schließt mit folgendem werthaltigen
Endpunkt ab: „Da würden ja die ganzen Fremden hinunterfallen, am Tag, wo er in der
Nacht hinunter ist.“ Dieser Verweis auf wandernde TouristInnen stellt eine markante
Abgrenzung nicht nur seines Schwiegervaters, sondern ein wenig auch der Einhei-
mischen (im Gegensatz zu den „Fremden“) dar, die verwegen, stark und geschickt
auch das schwierigste Gelände meistern. Durch diesen Hinweis wird deutlich, wie
sehr die ErzählerInnen mit den Schmugglergeschichten die eigene Identität kons-
truieren, indem das Prestige der heldenhaften Hauptfiguren, die sie oft selbst sind
oder aber mit ihnen verwandt oder bekannt, ganz allgemein auf die Montafoner-
Innen übertragen wird. Denn Schmuggeln, das zeigen die häufigen Erwähnungen
in den lebensgeschichtlichen Erzählungen, stellt keine individuelle oder historische
Ausnahmeerscheinung dar, sondern wird als Montafoner Eigenart inszeniert.
423 aus dem Prättigau her.
424 Steinhalde.
425 eine steile.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439