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348 gewesen“, BD), aus einer Doppelbelastung durch das Weiterführen der elterlichen
Landwirtschaft neben einem anderen Betrieb („Wenn ich heute drüber nachdenke,
wie ich das überhaupt machen habe können!“, BD), durch fehlende Pausen und
Urlaubsmöglichkeiten („Von Urlaub ist überhaupt keine Rede gewesen!“, BD), oder
durch schwere Arbeit („alles von Hand“ und „alles zu Fuß“, CC) ergab. Interessante
Einblicke in den Stellenwert der Landwirtschaft gibt CCs Hinweis, er sei erst Jahre
nachdem er ausschließlich die Landwirtschaft geführt hatte und für ein bisschen
Zuverdienst als Holzknecht tätig war, „arbeiten“ gegangen. Mit „arbeiten“ bezieht
sich CC auf eine feste Anstellung in einem Unternehmen, und stellt diese offenbar
den landwirtschaftlichen Arbeitsbereichen gegenüber, die ihm als so selbstver-
ständlich erscheinen, dass er sie gar nicht als richtige „Arbeit“ bezeichnet.
Ganz in diesem Zusammenhang ist zu verstehen, dass viele Erzähler sehr stolz
vom Unternehmen, in dem sie jahrelang angestellt waren, berichten und sich stark
mit diesem identifizieren – wie dies nachfolgend der 1930 geborene BB vorführt:
BB: Der [Onkel, Anm.] war damals Verputzer und war bei dieser Firma
beschäftigt und dann bin ich dort in die Lehre gekommen. 1948, dann die
drei Lehrjahre. Und 1951 die Gesellenprüfung. Und dann war ich als Maurer
und Verputzer, je nach Bedarf, war ich dann bei dieser Firma beschäftigt.
Bis 1960. […] War ein gutes Unternehmen. Und der Baumeister Buril hat
die einheimischen Unternehmen fast überflügelt. Er war sehr tüchtig. Und ich
denk jetzt zum Beispiel in Lorüns diese Silos, die runden, wurden damals in
den 70ern schon mit Gleitschalung gebaut. Das haben anderen Firmen noch
gar nicht gekannt.
Im landwirtschaftlich geprägten Montafon war die Wertschätzung der Möglich-
keit, einen anderen Beruf als LandwirtIn auszuüben, besonders bis in die 1960er,
1970er Jahre sehr groß. Die Eltern und Großeltern waren mitunter seit Genera-
tionen BäuerInnen gewesen, manchmal ohne eine Wahl zu haben. Dazu brachte
die Landwirtschaft immer weniger ein. Vor diesem Hintergrund besehen gab die
Möglichkeit, als erster in der Familie ein Handwerk zu erlernen und eigenes Geld
zu verdienen, den jungen Leuten ein Gefühl der Unabhängigkeit und Individuali-
tät. Der Erfolg eines Unternehmens wurde als persönlicher Erfolg interpretiert, die
wirtschaftlich guten Jahre der Nachkriegsjahrzehnte brachten den Arbeitern und
Angestellten nicht nur Wohlstand, sondern erhöhten ihr Selbstwertgefühl, etwas
zu schaffen und (wieder-)aufzubauen. Die jungen Leute hatten nun die Möglich-
keit, unabhängig von den Eltern eigene Wege zu beschreiten, und der allgemeine
Erfolg und Aufschwung in diesen Jahrzehnten schien ihnen Recht zu geben.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439