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350 HH ♂, geboren 1930:
HH: 59 haben wir ein Auto gekauft. […] Sind wir im Februar da herein
gekommen, am 12. Februar und am 14. April, glaub ich, haben wir das erste
Auto.
IH: Und zwar ein ganz ein tolles Auto. Und zwar ein PKW, wo alle Scheiben
versenkbar waren. Also, keine Mittelstrebe drinnen. Und da waren auch nur
sechs, sieben im Land. Und der ist wunderbar gelaufen. Aber man musste
immer auf Touren sein.
GH ♂, geboren 1929:
GH: Ja, also Fernseher habe ich anno 60 schon gehabt. „Schon“ sagt man nor-
mal nicht, aber damals ist es ziemlich einer von den ersten in Vandans gewe-
sen. Ich weiß noch, da hat man nur noch den deutschen Vierer Programm
hat man bekommen. Das kennt man heute gar nicht mehr, das Programm.
Mit einer Antenne wo zwei … Drei Mann mussten auf das höchste Dach hin-
aufheben. Und gewesen ist es fast wie ein Segelflieger so groß. Unheimliche
Kosten. Dann hat man es hereingebracht mit … „Geschneit“ hat es dann in
dem Ding drinnen, als wie mitten im Sommer der Schnee fallen würde. Ja
also, aber man hat halt gemeint, ja, ja, so einen Fernseher muss ich ja … das
ist halt etwas Einmaliges gewesen. Es sind dann … Ja, es ist langsam voran
gegangen, habe ich das Gefühl, in Vandans, mit dem Fernsehen.
Die Begeisterung über diese damals luxuriösen Anschaffungen ist den ZeitzeugIn-
nen bis heute anzuhören. IH beschreibt enthusiastisch die Ausstattung des Wagens,
an dessen Kaufdatum sich das Ehepaar bis auf den Tag genau erinnert. Die Nach-
teile gegenüber dem heutigen technischen Stand werden sowohl von HH und IH
in Bezug auf den Motor, als auch von GH in Bezug auf den schlechten Empfang des
deutschen Programms erwähnt. Die Anführung dieser Nachteile dient allerdings
eher dazu, den unüberhörbaren Stolz auf diese Anschaffungen auszugleichen. Den
Erzählern ist bewusst, dass das Lob des eigenen Besitzes nicht zuletzt Eigenlob
ist, was sie abzumildern suchen. So rechtfertigt GH beispielsweise seine Formulie-
rung, er hätte „schon anno 60“ einen Fernseher gehabt, damit, dass es tatsächlich
so gewesen sei – was seinen Stolz natürlich nicht zu schmälern vermag.
Der Hinweis, der oder die „Erste“ gewesen zu sein bzw. als „ersteR“ etwas gehabt
oder gekauft zu haben, stellt in den lebensgeschichtlichen Erzählungen einen regel-
rechten Topos und mitunter sogar eine Leitlinie des lebensgeschichtlichen Erzäh-
lens dar. Gerade der oben zitierte Erzähler HH verbindet seinen Lebenslauf immer
wieder mit den Daten bestimmter Erwerbungen: Der Aufzählung betreffend das
erste Motorrad, das erste Auto, das große Haus mit Garten oder das große Büro
folgt schließlich die Erwerbung von Auszeichnungen und Urkunden für verschie-
denste Tätigkeiten oder Funktionen und Ehrenämter. Andere Erzähler erwähnen
aber beispielsweise auch stolz, wann die Freiwillige Feuerwehr der Heimatge-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439