Seite - 352 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 352 -
Text der Seite - 352 -
352 mich zurechtgelegt, also ging ich zu einem Mann und beauftragte ihn mit der
höflichen Bitte mit den Budgetzahlen die restlichen Arbeiten wie Angebote
einholen und so weiter zu erledigen. Dies klappte wunderbar, zumal ich ihm
sagte, dass ich zu blöd für diese Arbeit sei. Diese Aussage erzählte ich einmal
in einer Feministinnenrunde und diese waren entsetzt, dass sich eine Frau
einem Mann gegenüber als blöd bezeichnen konnte. Ich jedoch war der Über-
zeugung, dass man einem Mann nur schmeicheln musste, um an das Ziel zu
kommen.
Der Topos vom „der/die Erste“-Gewesen-Sein thematisiert im Kern eine Leistung,
die die ErzählerInnen unter ihren Mitmenschen hervorragen lässt. Hinter diesem
Topos steht eine Geschichte, die weniger deutlich und explizit erzählt wird, näm-
lich die Geschichte des Wettbewerbs, des Vergleichens mit FreundInnen, Nachbar-
Innen oder Verwandten – und schließlich die Geschichte des Sieges – und sei es
ein Sieg in einem Kampf, von dem auch nachfolgende Generationen noch profi-
tieren würden. Der allgemeine Wirtschaftsaufschwung wird auf diese Weise mit
einer persönlichen Erfolgsgeschichte verknüpft, in der sich der/die Einzelne vor
dem Hintergrund des allgemeinen Aufschwungs selbst noch ein bisschen höher als
die anderen zu schwingen vermochte. Analog zur hohen Arbeitsmoral der Erzäh-
lerInnen dieser Generationen, die bereits in mehreren Kapiteln aufgezeigt werden
konnte, wird hier das explizite Leistungsdenken deutlich. In der Darstellung dieser
Werte, die die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute prägten und prä-
gen, ist der eigentliche Wandel der Gesellschaft zu sehen: Das traditionelle Gefüge
der landwirtschaftlich geprägten und organisierten Gesellschaft, in dem jeder und
jede ihren Platz hatten, der Ablauf der Tage, der Jahre und schließlich des Lebens
nach immer gleichen Mustern vorherzusehen war und in dem kaum persönliche
Leistungen, sondern vor allem die Arbeit in der Gemeinschaft zählte, wird abge-
löst von einer zunehmend ausdifferenzierten, individualisierten und leistungsori-
entierten Gesellschaft.
Dieser Wandel spiegelt sich im Zeitverständnis der ErzählerInnen wider. Wäh-
rend in der traditionellen, landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft das Leben als
aus kleinen Zyklen bestehender Zyklus verstanden wird, wird das moderne, indus-
trialisierte, zunehmend individualistische Leben linear als Folge von Ereignissen,
Handlungen, Errungenschaften dargestellt.446 Dieses lineare Zeitverständnis wird
in Bezug auf den Erzählstoff vom wirtschaftlichen Aufschwung besonders deut-
lich. Das Leben der ErzählerInnen stellt sich dar als die logische Konsequenz von
Arbeit, Leistung, und Errungenschaften werden in der Mehrung von Eigentum,
Erfahrungen oder Titeln gesehen.
446 Holl: Geschichtsbewußtsein und Oral History. S. 73f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439