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354 Nachkriegsjahren eine Familie gegründet, ein Haus gebaut oder von den Eltern
übernommen und versuchten nun, erstmals finanziell auf eigenen Beinen zu ste-
hen. Diese sehr prägenden Jahre stellen einen Meilenstein in einer Biografie dar,
was sich in der Ausführlichkeit der Darstellung widerspiegelt.
Der folgende Ausschnitt, erzählt von der 1926 geborenen WD, spricht beispielhaft
einige zentrale Aspekte dieser Erzählungen vom Tourismus in den Nachkriegs-
jahren an. Die Erzählerin, die ohne Eltern und in Armut aufgewachsen war, lebte
nach ihrer Heirat mit einem „fremden Bettler“, wie er (ganz der weit verbreiteten
Haltung gegenüber Nicht-VorarlbergerInnen entsprechend)450 von den Einhei-
mischen genannt wurde, erneut in ärmlichen Verhältnissen und konnte sich erst
durch das Vermieten ihres Schlafzimmers eine Existenz aufbauen:
WD: Jetzt haben wir ein Zimmerchen gehabt, da haben wir hinein geheiratet.
Keinen eigenen Löffel haben wir gehabt und kein eigenes Federbett. Und wir
haben aber auch nicht daran gedacht, wir haben nur uns gehabt und man hat
zusammengehalten. Und dann, wie gesagt, wie es zum Teilen [Erben, Anm.]
gekommen ist, haben wir den Grund bekommen, von meiner Mama, was mir
zugestanden ist und dort haben wir dann angefangen bauen. […] Und dort
bin ich die ersten fünf Jahre auf den Dachboden hinaufgekrabbelt, da hat man
so eine Stiege gehabt, zum herunter Ziehen. Das Büabli unter dem einen Arm
und auf der anderen Seite das Hündchen, und so sind wir auf den Dachboden
hinauf gekrabbelt im Sommer. Da habe ich das Schlafzimmer vermietet, die
ersten fünf Sommer. Fließwasser vor dem Hause! Da haben wir einen lau-
fenden Brunnen gehabt und sie haben es gerne gehabt, die Leute! Da sind sie
gerne vor das Haus hinunter, barfuß in der kurzen Hose, und haben sich alles
gewaschen, und die Bergschuhe haben sie auch vor dem Haus stehen lassen.
Und da hat man ihnen noch die Schuhe geputzt. Und hat ihnen einen Kuchen
gebacken, wenn sie gekommen sind. Und einen Kaffee gegeben, wo man nicht
gerechnet hat. Und man hat sie behandelt als wie einfach liebe Leute, dass
sie schöne Tage gehabt haben. Richtige Gäste gewesen. Und das hat auch viel
gebracht. Und da habe ich auch ein Gästebuch noch da, da könnte ich schöne
Sachen heraus erzählen, was sie mir hinein geschrieben haben. 35 Jahre habe
ich Gäste gehabt!
Wie viele andere Befragte betont die Erzählerin eingangs die Entbehrungen, mit
denen die Anfänge des Vermietens verbunden waren. Fünf Sommer lang mit Kind
und Hund auf den Dachboden „gekrabbelt“ zu sein, ist ein eindrückliches Bild,
das die vollkommene Aufgabe der Privatsphäre und Fürsorge für die Gäste unter-
streichen soll. Die Erzählung vom Umsorgen der Gäste, ohne jede Kleinigkeit zu
verrechnen, und die Feststellung, dass die TouristInnen damals noch „richtige
450 Mathis, Franz: 50 Jahre Vorarlberg. Erinnerungen von Zeitzeugen. In: Mathis, Franz und Wolf-
gang Weber (Hg.): Vorarlberg. Zwischen Fußach und Flint, Alemannentum und Weltoffenheit.
(= Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945 4) Wien 2000. S. 3–26. Hier S. 20.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439