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Gäste“ waren, denen man Schuhe putzte und für die man Kuchen buk, ergänzt das
Bild um jenes einer beflissenen Dienerin. Was damals aus einer Notwendigkeit,
nämlich jener des Geld-Verdienens, um das Haus abzahlen zu können, entstand,
wird heute mit Stolz beschrieben. Es wird retrospektiv gleichsam eine Kultur der
Gastlichkeit konstruiert und implizit freilich auch Kritik an der heutigen Situation
geübt.
Auch die Gäste von damals werden einem Vergleich mit jenen von heute
unterzogen. Dass die TouristInnen in den ersten Jahr(zehnt)en noch zufriedener
als heute waren, ist ein Topos, der in vielen tourismusspezifischen Erzählungen
bemüht wird. Die Erzählerin WD betont, dass sich ihre Gäste „gerne“ vor dem
Haus mit kaltem Wasser gewaschen hätten, und drückt damit aus, wie unvorstell-
bar dieser Umstand heute wäre.
Die Sätze „Und man hat sie behandelt als wie einfach liebe Leute, dass sie schöne
Tage gehabt haben. Richtige Gäste gewesen. Und das hat auch viel gebracht“ weisen
allerdings auf einen im Tourismus – heute wie damals – wohlbekannten Zwie-
spalt hin, nämlich jenen der bezahlten Gastlichkeit. WD betont, die Gäste wie
liebe Leute behandelt zu haben, was auch viel gebracht habe. Sie spricht damit
ganz dezidiert den geschäftlichen Aspekt an. Dass sie entgegen dem heutigen Usus
nicht jeden Kaffee verrechnet hat, streicht WD als Besonderheit heraus. Diese
Darstellung hilft der Erzählerin offenbar, sich von aktuellen und in ihren Augen
kritikwürdigen Tendenzen im Tourismus abzugrenzen. Mit dem typischen Selbst-
bewusstsein einer Pensionistin blickt die Erzählerin abschließend stolz auf ihre 35
Jahre währende Tätigkeit zurück.
Die Zwiegespaltenheit gegenüber dem (deutschen) Gast, die in WDs Erzählung
(bewusst?) nicht thematisiert wird, wird von anderen Erzählern überraschend
offen angesprochen. Im nachfolgenden Ausschnitt beschreibt ST, ebenfalls gebo-
ren 1926, die Erfolgsgeschichte des Tourismus, an der die EinwohnerInnen best-
möglich teilhaben wollten.
I: Wo nachher die deutschen Touristen gekommen sind, haben Sie da viel-
leicht noch eine Erinnerung?
ST: Ja, mein Gott, das ist dann eigentlich ziemlich schnell vom kleinen Ding
angewachsen, dann ist die Bautätigkeit losgegangen ganz gewaltig. Jeder hat
Fremdenzimmer dazu gebaut, jeder. Selber hat man dann im Sommer im Kel-
ler gewohnt und geschlafen. Alles andere waren Fremdenbetten und das hat
man dann auch ausgeweitet. Das ist dann rasch gestiegen. Und dann hat man
halt auch gemerkt, dass es auch liebe Deutsche gibt. Und solange sie das Geld
bringen, ist es sowieso recht. Und so hat das einen gewaltigen Aufschwung
gemacht. So wie sich jetzt wieder alles in der Umstellung befindet, vom Frem-
denzimmer auf die Ding-Wohnung, Ferienwohnung. Das ist jetzt viel mehr
gefragt, Fremdenzimmer geht nicht mehr viel.
Dass TouristInnen auch sympathisch sein können, beschreibt ST im Interview als
überraschende Erkenntnis – war doch eigentlich stets im Vordergrund gestan-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439