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356 den, dass „sie das Geld bringen“. STs Analyse der Erfolgsgeschichte „Tourismus“
bemüht sich um Distanz und Abgeklärtheit gegenüber den Prozessen, die auch ihn
und seine Familie im Sommer dazu bewogen, im Keller zu wohnen. ST beschreibt
obendrein die Geschichte des Tourismus als eine des ständigen Bauens und Wan-
delns. Zunächst versuchten die MontafonerInnen ihre Häuser auf eine größtmög-
liche Bettenkapazität auszubauen, während neuerdings alle „Fremdenzimmer“ zu
Ferienwohnungen umgebaut werden. Auf die empfundene Notwendigkeit der ste-
ten Modernisierung soll allerdings an anderer Stelle eingegangen werden.
Zum Themenkomplex der Aufgabe der Privatsphäre soll anschließend nochmals
die Erzählerin WD zu Wort kommen, die sich auch an den Tourismus in der Zwi-
schenkriegszeit erinnern kann. Schon damals waren Armut und Zimmervermie-
tung häufig eng miteinander verknüpft – und auch als Kind war WD persönlich
betroffen:
WD: Die Ahna hat natürlich schon ganz früher hat sie Gäste geholt, die hat
sie noch in der Tracht abgeholt, am Bahnhof oben, in der weißen Schoß, die
Tracht drüber getan. Da sind wir noch so klein gewesen, mit acht, neun, zehn
Jahren, und dann haben wir oben am Heustock geschlafen. Dann hat sie uns
halt ein Leintuch gegeben, und in das haben wir uns eingewickelt. Und jedes
Bett hat man vermietet. Und Schlafgänger hat sie gehabt, und Essgänger und
auf den Handel ist sie gegangen, und so hat sie uns Kinder durchgebracht.
Wie in den meisten lebensgeschichtlichen Erzählungen der Generation zwischen
1920 und 1930 – besonders wenn die Befragten im ländlichen, landwirtschaftlich
geprägten Raum aufwuchsen –, stellt das Thema der „harten Arbeit“ eine erzähle-
rische Leitlinie dar.451 Dabei handelt es sich einerseits um eine implizite Interpre-
tation der Arbeit als „Sinn des Lebens“ und andererseits um Notwendigkeiten im
Rahmen der bergbäuerlichen Armut, die bewirkten, dass bereits kleine Kinder zur
Arbeit herangezogen wurden. Eine nicht geringe Rolle spielt natürlich auch ein
gewisser Stolz auf das Geleistete, das in der retrospektiven Strukturierung der Dar-
stellung des eigenen Lebens, dem Arbeits-Ethos dieser Generation entsprechend,
ins Zentrum gerückt wird. Der 1925 geborene AC fasst seine berufliche Karriere
im Tourismus am Eingang seiner Erzählung mit folgenden Worten zusammen und
trifft damit gleichzeitig eine zentrale Aussage für sein Leben:
AC: Und seit dazumal betreibe ich eine Pension, hab dazumal mit vier Betten
angefangen. Also wir haben wirklich, mit meiner Frau, nur Arbeit und Arbeit
und Arbeit gekannt. Und auch die Kinder sind schon früh eingespannt worden.
Dass man auch die Kinder schon früh zum Mitarbeiten anhielt, ist in dieser Gene-
ration, die größtenteils selbst als Kind hart arbeiten musste, nicht Verwerfliches –
ganz im Gegenteil wird diese Tatsache an vielen Stellen stolz betont. So wird nicht
451 Vgl. Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439