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AAs Frau war hauptsächlich „mit den Gästen befasst“ und in den ersten Jahren „in
der Küche drin“. Erst als AA ihre Arbeit übernimmt, weil man sich entschloss, die
Landwirtschaft einzustellen, wird die vorhergehende Arbeit der Frau zu der eines
„Küchenchefs“ mit einem Lehrbuben. Einprägsam für das Rundum-Programm,
das den TouristInnen von den vermietenden Familien geboten wurde, ist nicht
zuletzt die Beschreibung der Abendunterhaltung, bei der wiederum „die Frau“
Gitarre spielte und sang. „Dass die Gäste dableiben“, wurden von den Familien
keine Arbeit – und keine Inszenierung – gescheut.
Die meisten ErzählerInnen widmen sich in ihren Darstellungen ausführlich den
„einfachen Verhältnissen“, die in den Nachkriegsjahrzehnten auch im Tourismus
herrschten. Besonders die sanitären Einrichtungen stehen im Zentrum der Erin-
nerung, sodass an deren Beispiel das Phänomen der „Mustererzählungen“ deutlich
aufzuzeigen ist. Die Erinnerungserzählung der 1917 geborenen MN soll nachfol-
gend dieses Erzählstereotyp verdeutlichen:
MN: Und nach dem Krieg sind wieder die ersten Gäste die Holländer gewe-
sen. Das sind schon Reisebusse, wie sie jetzt auch … die großen Busse sind
dann gekommen. Dann ist aber schon ein Verkehrsverein gewesen. Und dann
hat man so Zimmer vermietet. Es ist dann natürlich … da hat es noch keine
Zimmer mit … nicht einmal mit Wasser … da hat man noch einen Wasch-
tisch gehabt und eine Waschschüssel. Ja. Und Spülklosetts hat es natürlich
auch noch keine gegeben. [lacht] Das ist halt alles, alles viel einfacher gewesen.
Und so langsam hat man sich dann auf die Wintersaison … Dann musste
man zuerst … nein, nein, zuerst hat man dann geheizt in allen Räumen. Und
dann hat man Zentralheizung eingebaut. Und das Wasser auf alle Zimmer.
Zuerst hat man das Wasser auf die Zimmer gemacht. Danach, wenn wieder
keine Saison gewesen ist, ist es einem wieder eingefroren im oberen Stock, gell.
Oder man musste heizen, dass das Wasser nicht abfriert. [lacht] Alles haben
wir schon erlebt. [lacht]
Die vormoderne Ausstattung eines Wohngebäudes und der Weg zur Moderne
werden als Abenteuer präsentiert, das unterstreichen Aussagen wie „Alles haben
wir schon erlebt“. Das zugrundeliegende Motiv der Erzählung ist – wie so oft – der
Wandel im 20. Jahrhundert. Die „einfachen Verhältnisse“ von damals werden in
ihren Extremen geschildert („wenn wieder keine Saison gewesen ist, ist es einem
wieder eingefroren im oberen Stock“), der schrittweise Wandel nachgezeichnet und
der Schlusspunkt durch ein knappes Fazit verdeutlicht. Das Fazit, meist durch
einen zusammenfassenden Satz ans Ende der Erzählung gestellt, stellt einen soge-
nannten „werthaltigen Endpunkt“ dar. Werthaltige Endpunkte als Abschluss klei-
nerer, in sich geschlossener Geschichten im Lebenslauf strukturieren die lebensge-
schichtlichen Erzählungen – denn selbstverständlich verläuft ein Leben nicht nach
werthaltigen Endpunkten, sondern der Endpunkt und sein Wert werden von der
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439