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einiges jüngere, 1945 geborene DD erzählt die Geschichte des Wintertourismus im
Montafon, die in dieser Version einem regelrechten Gründungsmythos entspricht.
DD: Als Walter Klaus die Nova errichtete, da war natürlich für die Talschaft ein
großer Aufschwung. Weil vorher waren natürlich zwei extra Liftgesellschaften,
die nicht mehr Geld hatten, dass sie sich zusammenschließen konnten. Und so
sind sie zur Landesregierung runter, damit die mit der Finanzierung helfen für
einen Zusammenschluss. Im Landhaus hat man die ausgelacht, „was meint’s
denn ihr, was stellt ihr euch denn vor! Das kommt doch nie zum Laufen“. Und
als einmal der Walter Klaus ins Montafon kam, setzte er halt sich auch auf
den Stammtisch zu den Einheimischen und hörte von diesem Problem, das
man hatte. So hat er gesagt, „horcht’s, wenn ihr wollt, steig ich ein“. Sie haben
das dann der Landesregierung gemeldet. Wo sie zuerst runtergefahren sind,
haben sie gesagt „wir haben jetzt jemanden, der uns finanziert.“ Sie dachten
dann nach und haben gesagt, „jetzt habt ihr aber einen Blöden gefunden!“. So
war das. Und als sich das zusammengeschlossen hat, ist dann ein riesen Auf-
schwung gekommen und man hat jedes Jahr dazugebaut und dazugebaut und
es ist ein Aufschwung gekommen, wo die Leute Zimmer vermieten konnten,
ausbauen und das laufend verbessern im heutigen Standard. Und wenn Sie so
zu Weihnachten einmal abends durchs Montafon fahren, sehen Sie wie das da
drinnen eigentlich schön ausschaut. Das Tal ist eigentlich aufgeschmückt. Das
muss man schon sagen das ist … aber natürlich hat es auch Schattenseiten
gegeben. Man ist ein bisschen angeeckt. Es war noch einmal einer da, dieser
Minister, der mit dem Walter Klaus befreundet ist, der da alles aufgehalst hat.
„Mach du das noch, mach du das noch“, wo doch immer ein Defizitgeschäft
war. Zum Beispiel diese Bahn da neben mir, die Muttersbergbahn in Bludenz.
Und dann machte man im Bregenzer Wald diese Bahn, die sich auch nicht
halten konnte oder sich sehr schwierig hält. Der Walter Klaus war eigentlich
viel zu gut. Wenn man ihn gebeten hat, „Mensch, hilf uns da“, dann hat er da
eingegriffen und die Lage hat sich verändert.
DD stilisiert die zentrale Figur seiner Erzählung, den Unternehmer Walter Klaus,
regelrecht zu einem Helden, der allzeit hilfsbereit und „eigentlich viel zu gut“ dem
Montafon einen wirtschaftlichen Aufschwung bescherte. Die Eindeutigkeit seiner
Charakterzeichnung erinnert durchaus an Darstellungen in Märchen.457
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass im Zuge einer Untersuchung
von beinahe 70 biografischen Interviews aus dem Montafon einige wenige öffent-
liche Persönlichkeiten wiederholt in die individuellen Lebensgeschichten einge-
flochten werden. Walter Klaus stellt als ehemaliger Eigentümer der Silvretta Nova
Bergbahnen AG in mehreren Erzählungen eine wichtige Figur dar. Sein geschäft-
licher Erfolg wird, das geht besonders deutlich aus obigem Ausschnitt hervor, als
Errungenschaft für das Tal und seine Bevölkerung verstanden und ihm zu wei-
457 Bausinger, Hermann: Strukturen des alltäglichen Erzählens. In: Fabula 1 (1958). S. 239–254. Hier
S. 245.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439