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364 ten Teilen mit Dankbarkeit quittiert. Hier wird mit der Beschreibung weihnacht-
licher Lichterketten auf den Hausdächern ein schönes Bild vom Tal gezeichnet,
das in DDs Erzähllogik weit mehr dem Unternehmer Klaus zu verdanken ist als
den „trägen“ Herren der Landesregierung „unten“ in Bregenz. Klaus’ Einsteigen
in die Montafoner Tourismuswirtschaft wird hier weniger mit Geschäftssinn, als
vielmehr mit Großzügigkeit oder gar Selbstlosigkeit erklärt.
Der technische Wandel insbesondere in den Schigebieten ist ebenfalls beliebter
Gegenstand in den lebensgeschichtlichen Erzählungen. Der 1924 geborene SZ
beschreibt die Notwendigkeit der ständigen Innovationen:
SZ: Ja, das war Anfang der 80er Jahre, da kamen die … eine [Liftanlage,
Anm.] war draußen in St. Gallenkirch, die andere ist herinnen. Dann kam die
Vermuntbahn hinauf, dann haben später die Illwerke ihre Bahn, also die hat-
ten einen Schrägaufzug, einen laufenden Wagon, der von einem Seil gezogen
wurde. Das hat man dann ad acta gelegt und haben auch eine Bahn gebaut.
I: Und da ist der Tourismus dann angestiegen, oder?
SS: Ja, da ist es natürlich dann rasant … das hat sich dann sehr bezahlt
gemacht. Und ist heute noch, ich sag, die Leute wollen ja Bequemheit, wenn
sie reisen. Die wollen nicht mehr, so wie früher, stundenlang marschieren.
Hochgehen. Die wollen lieber gleich in der Höhe sein.
SZ beschreibt den technischen Fortschritt als notwendige Konsequenz aus den
wachsenden Bedürfnissen der TouristInnen. Ganz generell ist die Haltung der
Befragten gegenüber dem Tourismus an sich kaum je kritisch. Die noch Anfang
des 20. Jahrhunderts hauptsächlich von der Landwirtschaft lebende Bevölkerung
begreift den Massentourismus, der das Tal am Ende desselben Jahrhunderts maß-
geblich prägt, offensichtlich vor allem als Chance und als eine der wenigen Mög-
lichkeiten, im Tal zu arbeiten und weiterhin hier leben zu können. Wie bereits am
Eingang des Beitrags bemerkt wurde, prägt der Tourismus durch seine Werbung
auch sehr stark das Selbstbild und damit die Identität der Menschen. Der Stolz auf
die Landschaft sowie auf die Tatsache, dass heute hunderttausende Menschen ins
Tal kommen, um das regionale Angebot zu nutzen – und niemand mehr auswan-
dern muss, um überleben zu können –, überwiegt in den Erzählungen bei Weitem.
Kritische Stimmen gegenüber Wirkung und Ausmaß der touristischen Entwick-
lung im 20. Jahrhundert sind rar. Sehr häufig gehen sie mit latentem Kulturpes-
simismus einher, der generell alle Veränderungen in der Gesellschaft als negativ
bewertet. Der 1914 geborene VV führt im nachfolgenden Beispiel die Zunahme
„neuer“ Familiennamen im Montafon, aber auch die Veränderung des Dialektes
im Tal auf den Tourismus zurück. Dabei konstruiert er eingangs das Bild einer
„echten“ Montafoner Bevölkerung, die heute nicht mehr existiere. VV beklagt
implizit, wie das auch bei vielen anderen Befragten in Bezug auf verschiedenste
gesellschaftliche Phänomene der Fall ist, eine (globale) Vereinheitlichung und den
Verlust einer regionalen spezifischen Identität: Dabei wird ein Aspekt des Tou-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439