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nicht einfach wegfahren konnte. Der 1925 geborene IR erzählt, dass für ihn und
seine Familie Tourismus ausschließlich Arbeit bedeutete:
IR: Urlaub machen konnten damals nur die feineren Leute. Wer hat damals
schon einen Bergführer vermögen, einfache Leute sicher nicht. Viele Wiener
waren da. Die Mutter hat damals auch Gästebetten aber ohne Fließwas-
ser und WC gehabt. Der Sommer war voll mit deutschen Gästen. Heute ist
nichts mehr gut genug. Die ganze Welt braucht man heute, kosten soll es auch
nichts. Von Pfingsten bis Saisonende war früher im Sommer alles belegt. Viele
Stammgäste haben wir gehabt, die Mutter hielt schon Kontakt zu ihnen. Einen
Gegenbesuch konnten wir nicht machen, das war viel zu teuer. Die Zeit fehlte
auch dazu. Die Arbeit war vordergründig. In der Sommerzeit war Saison und
eigene Arbeit, Urlaub hat es privat bei uns nicht gegeben.
IR beschreibt eingangs die Gäste, die seine Familie im Haus beherbergte. Sein Ein-
druck, dass es sich dabei ausschließlich um „feinere Leute“ handelte, bewegt ihn
am Ende seiner Darstellung dazu, sich von den Gästen klar als „einfacher Mann“
zu distanzieren. IR betont, dass ein Gegenbesuch zu teuer gewesen wäre und über-
haupt auch die Zeit dazu fehlte, weil die Arbeit „vordergründig war“. IR betont dies
nicht ohne Stolz, worin sich ein weiteres Mal der große Stellenwert eines arbeits-
reichen, fleißigen Lebens manifestiert.
Auch der 1930 geborene JQ unternahm keine großen Reisen. Er und seine
zukünftige Frau verzichteten dennoch nicht auf Urlaub und taten es den Tourist-
Innen gleich, die im Montafon Ferien machten:
JQ: Wir waren zum Beispiel, kann ich mich erinnern, haben wir einen Weih-
nachtsurlaub gemacht, zwischen Weihnachten. Also vor Weihnachten hat
sie Urlaub bekommen, und ich habe auch Urlaub bekommen. Da waren wir
damals auf Golm. […] Da war das Gasthaus, Haus an der Heid. Und dane-
ben war das Schlafhaus. Da haben wir dort wochenlang gebucht, mehr konn-
ten wir uns nicht leisten. Und da haben wir getrennte Zimmer gehabt, natür-
lich [lacht], das war damals … obwohl wir uns schon ganz gut gekannt haben.
Aber wir haben … was sagen da die Leute [lacht], so gell. Und dann sind wir
dort Skifahren gegangen. Da war keine Seilbahn und nichts und gar nichts.
Da ist man von da hinauf marschiert bis auf Golm, ah, bis auf Matschwitz am
ersten Tag. Am Abend sind wir angekommen, haben wir übernachtet. Und
dann sind wir täglich ein oder zweimal, manchmal dreimal, wenn es ganz
schön war, mit den Fellen bis auf Golm hinauf marschiert. Einmal am Vor-
mittag und abgefahren. Und am Nachmittag einmal oder zweimal. Und das,
das war, das erinnere ich mich, das war sooo schön. Also mit dem Massentou-
rismus könnte ich nichts anfangen. Also das war sooo schön damals.
JQs Urlaubsbeschreibung ähnelt entfernt dem Muster der Erzählungen EEs und
RIs: Der familiäre Aspekt des Urlaubs wird betont, der Urlaub wird als unvergess-
lich („sooo schön“) beschrieben, auch eine Anekdote zum Schmunzeln – hier der
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439