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Eine dritte Erklärung für den geringen Stellenwert des Erzählstoffes „Liebe“ in
den lebensgeschichtlichen Erzählungen könnte die wirtschaftlich schwierige Situ-
ation der ZeitzeugInnen während des ersten Drittels ihres Lebens sein. Bei einigen
Erzählungen entsteht das Gefühl, hier sei die Liebesgeschichte quasi zwischen den
widrigen Umständen verloren gegangen. So weist etwa KKs obige Erzählung, in
der sie beschreibt, dass sie ein halbes Jahr nach dem Tod der ersten Frau ins Haus
kam und wiederum ein halbes Jahr später den Witwer ehelichte, darauf hin, dass
es neben der Liebe andere dringende Gründe gegeben haben muss, derart schnell
eine Ehe zu schließen. – In ihrem konkreten Fall waren es wirtschaftliche Gründe
sowie die Versorgung des Kindes aus erster Ehe, die für eine rasche erneute Ver-
heiratung sprachen.
Armut, harte Arbeit, Krise, Krieg, persönliche Schicksale prägen die Erzählungen
bis in die 1950er Jahre. Dass in Bezug auf die Ehefrau und den Ehemann weniger
Liebe, als vielmehr Partnerschaftlichkeit und Zusammenhalt im Vordergrund ste-
hen, mag da nicht überraschen. Drei Beispiele illustrieren nachfolgend, wie die
Erzählungen vom Kampf um ein gutes Leben die Liebesgeschichten wie von selbst
in den Hintergrund geraten lassen:
IR ♂, geboren 1925:
IR: Der Vater meiner Frau kam aus Bürs, die Mutter von ihr war Schweize-
rin. Der Vater arbeitete als Werkmeister im Krafthaus bei den Illwerken. Sie
wohnte in einem Nachbarhaus bei uns, da war sie noch ein junges Mädchen.
Ich heiratete mit 33 Jahren, sie war 23 Jahre alt. Unser Leben bestand aus
Arbeit und Aufbauen.
WD ♀, geboren 1926:
WD: Ein bisschen Hilfe brauche ich schon, ja, für die harte Arbeit und für den
Garten zum Rasenmähen. Das geht alles nicht mehr. Der Mann ist ein Künst-
ler geworden. Wo er gekommen ist, konnte er keinen Nagel hinein schlagen.
Und danach, jede Waschmaschine, jede Schraube, alles macht er auseinander
und repariert alles. Alles kann er. Alles. Gar alles. Und heute lässt er mich
nicht mehr zur Waschmaschine. Er hinkt hinunter in die Waschküche und:
„Waschen tu ich“, sagt er immer. Und wenn ich ihn dann höre, schwer mit der
„Zena“475 heraufkommen, gehe ich ihm dann entgegen und helfe ihm. Und
dann hängen wir halt miteinander die Wäsche auf und so. Das möchte er
machen, die Wäsche machen. Und so teilen wir die Arbeit halt ein bisschen.
Und so haben wir 54 Jahre zusammen gebracht. Es ist nicht immer schön
gewesen. Es ist viel Mal anders auch gegangen. Es kommt viel. Wenn man
26 Saisonen alleine ist, Sommer und Winter. Er hat halt oben im Hotel, das
hat er wahnsinnig gerne gemacht. Das ist einfach seine Arbeit gewesen. Mit
475 Wäschekorb.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439