Seite - 378 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 378 -
Text der Seite - 378 -
378 TG beschreibt hier eine „soziokulturelle Gewohnheit“ für die 1920er und 1930er
Jahre, der sich die traditionelle volkskundliche Forschung gemeinsam mit dem
Brauch des Fensterlns ausführlich widmete: nämlich die häufigen Raufereien jun-
ger Männer unter dem Vorwand, die Mädchen im Dorf vor den ortsfremden Kon-
kurrenten abzuschirmen.486 Typisch für die Erzählungen vom Fensterln (wie auch
vom Hengert) ist dabei, dass die Erinnerungen daran in den lebensgeschichtlichen
Erzählungen von Männern häufig breiten Raum einnehmen, während Frauen
diesen Brauch kaum je erwähnen.487 Ausgeschnitten aus TGs Darstellung wurden
aufgrund der Länge mehrere Beispiele für schwere körperliche Verletzungen, die
dem Erzähler sicherlich auch aufgrund seiner eigenen potenziellen Betroffenheit
bis heute lebendig in Erinnerung blieben.
TG spricht in seiner Erzählung immer wieder vom „Rippen zählen Lassen“,
einer Formulierung – die damals vielleicht unter den jungen Leuten verbreitet –
erste Annäherungsversuche und Berührungen im Intimbereich der Frau symbo-
lisiert. Auf unterhaltsame Weise schildert TG seine Strategie, wie man beim „Rip-
pen zählen“ zumeist vorging und wie er schlussendlich seine spätere Ehefrau dazu
brachte, ihn ihre Rippen zählen zu lassen. Einzigartig in den lebensgeschichtlichen
Erzählungen ist darüber hinaus TGs Hinweis, seine Frau sei „hundertprozentig
eine Jungfrau“ gewesen, der erahnen lässt, dass die Jungfräulichkeit eines Mäd-
chen nicht selbstverständlich war und außerdem unter den heiratswilligen jungen
Männern wertgeschätzt wurde. Auch TG schließt seine Erzählung mit der Anzahl
der gemeinsamen Kinder.
Erzählungen über die Eheschließung haben in Hinblick auf die Situation und Rolle
der Frau in der Gesellschaft in einigen Biografien eine ganz besondere Aussage-
kraft, nämlich wenn in den Berichten aufgezeigt wird, welch hohen Stellenwert
die Verheiratung für Frauen in ländlichen, traditionell geprägten Gesellschaften
haben konnte. Einige Erzählungen beschreiben die Rolle der Hochzeit regelrecht
als Befreiung der Frau und als Möglichkeit, die Lebensqualität bedeutend zu erhö-
hen. Die nachfolgenden Ausschnitte zeigen beispielhaft drei mögliche Dimensio-
nen einer Verheiratung für Frauen (insbesondere aus schwierigen sozialen oder
wirtschaftlichen Verhältnissen) auf:
KK ♀, geboren 1922:
KK: Nach dem Krieg war ich schon Mitte zwanzig, von Männern habe ich
keine Ahnung gehabt. Wenn wir zur Gota gelaufen sind, hat mir einer immer
nachgesetzt, das war uninteressant für mich. Eine Verwandte war meist mit,
dann habe ich ihn mit der FS hinaufgeschickt, später hat sie gesagt, der ist nur
wegen mir mitgelaufen. Meine Firmtante hat mir oft gesagt, wenn ich mit den
486 Bakay, Gunter und Petra Streng: Bauernerotik in den Alpen. Das Liebesleben der Tiroler vom
Mittelalter bis ins zwanzigste Jahrhundert. Innsbruck 1997. S. 106f.
487 Haidvogl, Alois: Fensterln. In: Bauer, Kurt (Hg.): Bauernleben. Vom alten Leben auf dem Land.
Wien 20073. S. 147–149.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439