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388 einer humoristischen Note beschrieben, wenn CY beispielsweise davon spricht,
bis nach Wien „in die Reparatur geschickt“ worden zu sein. Sehr wohl sprechen die
Erzähler auch von Glück, eine gefährliche Situation überlebt zu haben – ihre erzäh-
lerische Haltung allerdings lässt keine emotionale Ergriffenheit erkennen, sondern
vielmehr die Bemühung um eine möglichst spektakuläre Darstellung. Nicht nur in
Bezug auf die schweren Verletzungen und die große Gefahr stellen sich die Erzäh-
ler als stark oder abgehärtet dar, auch wenn es um die Genesung oder die wirt-
schaftlichen Schwierigkeiten aufgrund des Unfalls geht, attestieren sie sich selbst
ein gewisses Kämpfertum. CC spricht beispielsweise die Schwierigkeiten an, ohne
Versicherung anschließend die hohen Kosten für den langen Krankenhausaufent-
halt abzahlen zu müssen. Abschließend werden in den Erzählungen Topoi wie „So
geht’s, so ist das Leben“ (CC) bemüht, oder mit werthaltigen Endpunkten wie „wenn
es nicht bestimmt ist …“ (CY) geschlossen.
Krankheiten werden in den Erzählungen grundlegend anders als Unfälle darge-
stellt. Zumeist handelt es sich hierbei weniger um plötzliche Ereignisse, als viel-
mehr um lebensbegleitende Umstände, denen nur schwer Positives abzugewinnen
ist und deren ErdulderInnen nur selten Heldenhaftigkeit attestiert wird. Ein Aus-
schnitt aus der im Original viel längeren Erzählung des 1930 geborenen AZ lässt
erahnen, in welcher Form sich eine lange Leidensgeschichte auch in der lebensge-
schichtlichen Erzählung widerspiegelt. AZ beschreibt eine Serie von Arztterminen
und Hüftoperationen, erzählt von Schmerzen und seiner nur mehr eingeschränk-
ten Fähigkeit zu arbeiten:
AZ: Danach bei dieser Firma bin ich dann Polier geworden, und halt Bau-
stellen geführt. Dann habe ich aber mit den Hüftgelenken schon frühzeitig
„Maläschta“490 gehabt. Anno 66 bin ich ja in Wien operiert worden […], da
hat man mir die Oberschenkel durchtrennt, und die Kugel gedreht. Und nach
der ersten Operation ist der Fuß um „viar Sanitmätr“491 kürzer geworden.
[…] Und dann habe ich orthopädische Schuhe getragen. […] Und dann anno
71 bin ich zu dem Dr. Schaller, hat er mir in St. Gallen dort geschaut, dass
ich operiert werde. Dann bin ich dorthin gekommen. Die haben mich dort
operiert. […] Und dann sind die Füße gleich kurz geworden. Oder gleich lang.
[lachen] Ist eine große Erleichterung gewesen. Aber schmerzfrei bin ich natür-
lich nie gewesen. Und im Büro konnte ich dann arbeiten. Und wenn jetzt ein
„Capo“492 halt einmal ausgefallen ist, habe ich halt wieder ausgeholfen. Und so
ist eigentlich die Zeit dann … die Jahre und so vergangen. […] Und ich muss
sehr zufrieden sein, wie ich heute noch beieinander bin. Habe ich nie geglaubt,
dass ich damals „dia Stecka“493 wegbringe. Ich muss heute mehr als zufrieden
sein. Ja und die Familie da. [lacht]
490 Probleme; Beschwerden.
491 vier Zentimeter.
492 Vorarbeiter; Polier.
493 Krücken.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439