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394 diese … mach ich aber heute nicht mehr so, weil in meinem Alter auch …
meine Knochen sind verbraucht. [lacht] Alles hat halt einmal ein Ende. Ich
bin froh wenn ich heute halbwegs noch jeden Tag aufstehen kann. Und meiner
Frau ein bisschen helfen kann. Die ist auch schon 84. Und da tut man sich halt
nicht mehr so leicht. Krankheiten sind uninteressant.
EV ♀, geboren 1904:
EV: Ja, es ist nicht immer schön. So alt werden, ist nicht schön. Man hat so
viele Wehwehchen, die man gar nicht verkünden kann. Und dann, das Selbst-
bewusstsein – man kommt sich vor, als sei man ausgestoßen. Die Jugend ver-
steht das nicht. Man wird langsam zur Last. […] Ich hab’s ja schön, bin gut
versorgt. Hab eigentlich keinen Mangel. Eine gute Rente und alles. Aber ich
hab immer das Gefühl, ich bin halt doch eine Last.
Die Erzählerin LL stellt die abnehmende Leistungsfähigkeit als die für sie
schlimmste Begleiterscheinung des Alterns dar. Mit „Die Arbeit hat mir gut getan“
weist sie einerseits darauf hin, dass Arbeiten bzw. das Eine-Aufgabe-Haben sie
jung und gesund gehalten hätten, während mit den körperlichen Leiden im Alter
und der damit einhergehenden Untätigkeit ein Teufelskreis des Verfalls einsetze.
Der Erzähler SZ stellt nicht die Arbeit, sondern seine körperliche Leistungs-
fähigkeit beim Freizeitsport ins Zentrum seiner Erzählung vom Altern sowie die
Fähigkeit, im Haushalt helfen zu können. Mit der abschließenden Bemerkung
„Krankheiten sind uninteressant“ weist SZ, wie im Übrigen auch viele andere Erzäh-
lerInnen, darauf hin, dass es sich hier um einen seines Erachtens wenig attraktiven
Erzählstoff handelt. Im Hintergrund dieser Bemerkung steht wohl die Sorge, in
den Verdacht des Jammerns zu geraten, was die ZeitzeugInnen klar von sich zu
weisen bemüht sind.
EV schließlich spricht den Aspekt des Zur-Last-Fallens an, der ihr im Alter
große Sorgen bereitet: Das Bewusstsein, ihrer Familie Mühe zu bereiten, belastet
die ErzählerIn und trägt, mit der Erfahrung, von „der Jugend“ nicht verstanden zu
werden, zum einem Gefühl des „Ausgestoßen-Seins“ bei.
Neben äußeren Faktoren (wie etwa die zunehmende Unterbringung Pflegebedürf-
tiger in speziellen Einrichtungen oder auch die Geringschätzung der Rolle alter
Menschen für die Gesellschaft), die unsere Gesellschaft im Umgang mit alten Men-
schen und damit auch die Erfahrungen der ErzählerInnen prägen, verdeutlichen
die Erzählungen der drei ZeitzeugInnen ein weiteres Mal die hohe Arbeitsmoral
der befragten Generationen. Menschen, die sich ein Leben lang unter anderem
über ihre Arbeit, ihre Arbeitsfähigkeit oder ihre Leistungen definierten, leiden kon-
sequenterweise im Alter darunter, niemandem mehr von Nutzen sein zu können
– oder im Gegenteil sogar eine Belastung darzustellen. Dieses Thema des Alterns,
und vor allem die Bedeutung des Alt-Werdens für die ErzählerInnen persönlich,
wird nur in wenigen lebensgeschichtlichen Erzählungen angesprochen, was sich
einerseits aus der für die Betroffenen eher unangenehmen Thematik, anderer-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439