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Lebensgeschichte nicht umhin kommt, vom Tod ihres Sohnes zu berichten. BX
gestaltet ihre Ausführungen im ganzen Interview sehr ausführlich und bemüht
sich auch in der Darstellung dieses Verlusts um sachliche, detailreiche Berichter-
stattung. Als ihre Stimme mehrmals leise und brüchig wird, bittet sie schließlich
darum, das Aufnahmegerät abzuschalten: „Ja ich hätte das jetzt gar nicht erzählen
… Ich nehme an, dass du das jetzt nicht schreibst, oder schalten wir aus, ich möchte
das jetzt nicht grad.“ Sie verweist einerseits darauf, dass sie keine Publikation der
Geschichte vom Tod ihres Sohnes wünscht, und signalisiert andererseits, dass sie
selbst eine kurze Pause braucht, um sich zu sammeln. Die Aufnahme setzt schließ-
lich mit einem anderen Thema wieder ein. Nur wenige ErzählerInnen fühlen sich
in der Interviewsituation so sicher, dass sie sich auf einen für sie derart schwie-
rigen Erzählstoff einlassen, im Wissen und Vertrauen, die Erzählung (oder die
Aufnahme) jederzeit selbstbestimmt unterbrechen zu können. Nicht zuletzt aus
diesem Grund werden dramatische und schmerzliche Erlebnisse in den lebens-
geschichtlichen Erzählungen zumeist nur kurz angedeutet, niemals jedoch (mit
Ausnahme von BX) ausführlich geschildert.
Wesentlich häufiger als Erzählungen vom plötzlichen Tod eines nahestehenden
Menschen kommt es zur Darstellung des Verlustes des/der PartnerIn im Alter
– was natürlich mit dem hohen Alter der ZeitzeugInnen zu erklären ist. In ACs
Darstellung hängt der Tod seiner Frau mit dem vorhergehenden Tod der gemein-
samen Tochter zusammen. JQ hingegen sucht nicht nach Erklärungen, sondern
erlebte den Abschied nach dem langen Leidensweg als Erlösung:
AC ♂, geboren 1925:
AC: Leider ist meine Frau im Jahre 1992 an einer unheilbaren Krankheit
gestorben. […] Im Jahre 1988 ist die Tochter EC mit 34 Jahren tödlich verun-
glückt, und das hat meiner Frau den Todesstoß gegeben. Wo ich mit meiner
Frau in Bludenz zum Doktor bin … er hat sie noch gar nicht angeschaut, sagt
er: „Was haben Sie denn für einen seelischen Schmerz? Was haben Sie denn
seelisch mitgemacht, dass Sie so …“ Er hat es ihr sofort angesehen. Das ist
klar: Es ist für einen Vater furchtbar, aber für eine Frau, für eine Mutter ist
es noch viel ärger, wenn ein Kind … Die EC ist am Abend mit einem lachen-
den Gesicht weg, hat gesagt: „Vati, Mutti, ich geh noch ein bisschen weg. Gute
Nacht.“ Und nach Mitternacht kommt die Gendarmerie und bringt die Nach-
richt. Das geht natürlich nicht spurlos an einem vorbei, hauptsächlich an der
Mutter, aber trotzdem. Ich selber habe dann auch viel mitgemacht, gerade mit
der Frau. Ich bin zwei Jahre mit ihr nach St. Gallen hinunter, habe gemeint,
das müsse besser werden. Die Professoren vom Kantonsspital haben mir Hoff-
nung gegeben und haben gesagt: „Frau DC, Sie sind auf dem richtigen Weg.
Die Metastase geht zurück, schaut gut aus.“ Und da haben wir natürlich alle
gehofft, gell. Es ist dann eine Weile so gewesen, aber eins, zwei hat es gerade
ins Gegenteil umgeschlagen und es war fertig. Ja, ja. Und so habe ich halt viel,
wirklich viel mitgemacht.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439