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398 JQ ♂, geboren 1930:
JQ: Das ist ja neun Jahre gegangen. Gell. Und sieben Jahre bin ich mit meiner
Frau immer spazieren gegangen, mit dem Rollstuhl. Da hat sie noch Geist
gehabt. Da hat sie das und jenes wollen, und hat mir gedeutet, da möchte sie
hin und so weiter. Und da bin ich immer mit ihr da herum. Und die letzten
zwei Jahre war halt nichts mehr. Da wollte sie nicht mehr. Das ist … der Tod
war dann richtig nur eine Erlösung.
JQs und ACs Darstellungen sind sehr unterschiedlich, ähneln sich aber in dem
Punkt, dass sich beide mit dem Verlust der Ehefrau abgefunden zu haben scheinen
und hier – im Gegensatz zu den Erzählungen vom Verlust eines Kindes – keine
seelischen Wunden erkennbar sind, sondern vielmehr ein weiteres Kapitel des
Lebens, das Kapitel der Ehe, abgeschlossen scheint. ACs Erzählung vom Tod seiner
Tochter und dem anschließenden Tod seiner Frau verdeutlicht allein in Bezug auf
die Ausführlichkeit seiner Darstellungen die emotional viel tiefergehend erschei-
nende Betroffenheit, wenn er vom Unfalltod der jungen Tochter berichtet.
Einige wenige ZeitzeugInnen sprechen in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung
den eigenen Tod an. Zwei mögliche Berührungspunkte mit diesem schwierigen
Thema sollen nachfolgend gegenübergestellt werden: RI informiert knapp, dass
der Platz für sein Grab auf dem Friedhof schon festgelegt wurde, AC berichtet von
seiner Nahtoderfahrung im Anschluss an eine Operation:
RI ♂, geboren 1910:
RI: Wenn ich sterbe, werde ich in Schruns beerdigt, der Platz ist schon
bestimmt. Verbrennen lasse ich mich sicher nicht.
AC ♂, geboren 1925:
AC: Ja, und eben anno 1999 habe ich eine lappale Gallenoperation gehabt.
Während dem Aufwachen […], ich bin zum großen Glück nicht allein im
Zimmer gewesen, da ist noch einer gewesen, […] auf einmal bemerkt mein
Bettnachbar, dass bei mir alles ruhig und still ist […] Jetzt hat der halt geläutet
und Ding. Und da habe ich eine Lungenentzündung, Herzinfarkt, und Herz-
stillstand gehabt. Ich bin schon in der anderen Welt gewesen. Und da haben
sie mich dann natürlich gleich reanimiert, wie lange, das weiß ich nicht, und
haben mich wieder ins Leben zurückgeholt. Nachher, wo ich das erfahren
haben, ich war sechs Tage im Tiefschlaf, und wo ich das erfahren habe, das
erste Wort das ich dort gesagt habe: „Da hat mir die Mutter Gottes geholfen.“
[…] An einem Herbsttag bin ich hinauf zur Grotte, habe mich auf die Bank
gesetzt und habe mausallein einen ganzen Rosenkranz gebetet, was ich das
ganze Jahr, auch bei der Grotte, allein, nie getan habe! Ein Vater Unser höchs-
tens, aber nicht mehr. Aber da ist es so schön gewesen! Und das ist mir, wo
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439