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402 EV: Da bin ich grad im Herbst in die Schule eingetreten. Das [Hochwasser
1910, Anm.] war auch eine Katastrophe. Das kann ich mich noch so gut erin-
nern. Stellen Sie sich mal vor, der Wald ist da jetzt fort. Der war da ganz licht,
da war alles Wiese und Ställe. Und ich weiß gut, an dem Abend wo das Wasser,
wo die Ill ausgebrochen ist, haben wir noch das Vieh in den Stall getrieben.
Und da ist eine schwarze Wand in Partenen, also blau-schwarz war’s. Und
dann haben wir das Vieh reingegeben und nach ein paar Stunden kommt
jemand: Wir müssen ausziehen, die Ill ist ausgebrochen. Alle Bäche sind ver-
rückt. […] Und da ist keine einzige Brücke mehr gestanden, im ganzen Tal.
Jetzt lüge ich, eine ist noch gestanden. Das war grad da bei Grandau die Brü-
cke. […] Da ist natürlich alles unter Wehr gewesen. Die ganze Zeile hat man
wehren müssen. Ja, mit Bäumen und Sandsäcken und alles … ganze Tannen
haben sie da runter geschleppt durch’s Gras, dass es nicht das Haus wegnimmt
und das Elternhaus auch, da unten. Da ist direkt unterhalb der ganze Bach
vorbei. Und was für ein Bach! […] Ich bin natürlich da ein kleines Kind gewe-
sen. Ich kann nicht mehr sagen wo überall es [Wohnhäuser, Anm.] weg hat. Ich
weiß nur noch, dass es alle Brücken weg hat und dass sie am Rücken Mehl und
Proviant von Schruns auf den Tragtieren, haben sie Lebensmittel rein schaf-
fen müssen ins Tal bis wieder halbwegs … Das weiß ich noch, die Mama hat
gesagt: „Mein Gott, ob wir noch Brot kriegen?“ Jetzt mussten sie die Sachen
auf dem Rücken reintragen. Ja, ich muss mich natürlich auf die Sachen ver-
lassen, was ich gesehen hab. Da drüben, grad da drüben ist ein schöner Stall
gestanden von dem Bauern, den wir jetzt haben. Der hat eine wunderschöne
Wiese gehabt, und fast einen schönen Stall. Und den Stall hat er im Vorjahr
neu gebaut, da haben wir noch gespielt. Und das Jahr drauf, im Juni, hat das
Wasser das ganze Gut weg. Und den Stall da drüben auch. Alles. Der Stall ist
in den Fluten verschwunden. Krach! und fort ist er gewesen. Das hab ich mit
eigenen Augen mitangeschaut wie der Stall verschwunden ist. Damals hab ich
einen Geist … damals hat man natürlich Geister gesehen, hab mir einen Geist
hergeholt, so ist der im Wasser verschwunden. Und schöne Wiesen sind’s gewe-
sen. Kirschbäume und Obstbäume. Alles fort. Alles Wasser. Wie ein See. Wir
haben über’s Wasser runter geschaut auf die andere Seite. Es war wie ein See.
EV leitet ihre eigentliche Erzählung mit dem Satz „Stellen Sie sich mal vor, der Wald
ist da jetzt fort“ ein, was ihr Bedürfnis verdeutlicht, das Unglaubliche vorstellbar zu
machen und als erzählerische Technik bewirkt, dass die Zuhörenden einbezogen
und sofort von der Darstellung mitgerissen werden. Die unfassbaren Dimensionen
der Katastrophe werden vorangestellt und auch in der Erzählung immer wieder
hervorgehoben, mitunter auch, weil diese außergewöhnlichen Bilder nicht verges-
sen werden können, wie der Satz „Der Stall ist in den Fluten verschwunden […].
Das hab ich mit eigenen Augen mitangeschaut“ unterstreicht. Bei dem Hinweis,
etwas mit eigenen Augen gesehen zu haben, handelt es sich im Übrigen um einen
in ZeitzeugInnen-Erzählungen sehr häufigen Topos.502
502 Schröder: Topoi des autobiographischen Erzählens. S. 23.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439