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408 RR ♂, geboren 1919:
RR: Und dann hat sie [die Mutter, Anm.] auch erzählt, früher hat man über-
all Mahdheu gemacht, in den Alpen drinnen, wo das Vieh nicht mehr hin-
aufgekommen ist. Mahdheu, furchtbar noch. In den 30er Jahren immer. Da
hat sie auch erzählt. Sei auf dem Oberen Ziegerberg seien sie auch Mahdheu
holen, am Morgen früh. Und da sei auch ein kleines Kind noch in der Wiege
gelegen, oder „im Kärrili“511. Und der älteste Bub von denen musste da auch
mit, wird aus der Schule gewesen sein. Und da habe er gesagt, der Bub noch,
dass ihn das Kind heute so anschaue. Und da sind sie weg. Und da sei der Bub
nicht mehr gekommen, habe ihn die Lawine hinunter. Ha? Hat das nicht …
ein extra Zeichen gewesen?
I: Mmmmh [bejahend].
RR: Ja. [4 sec. Pause] Und weißt du, du glaubst das nicht, ich habe das ein
paar Mal erlebt, gehört und gesehen, dass sich ein Mensch regen kann, bevor
er stirbt. „Do giets ger nüt z’rottla“512. […] Das habe ich ein paar Mal erlebt.
[…] Und wo von seiner Schwester die Tochter, von der der Mann gestorben
ist, anno 73, ja, Anfangs Juni, bin ich da „i dr Kammera dinna“513, habe ich
geschlafen. […] Da macht es am Morgen, gleich nach halb fünf, viertel vor
fünf, hat es mir den Namen gerufen. Da drinnen. Bin ich im Schlafzimmer
gewesen, ruft es: „RR!“ Ich auf, das Fenster auf: „Wer ist da?“ Niemand da. In
die Stube heraus, da ein Fenster aufgemacht, da hinaus geschaut, auch nie-
mand da. Das ist ein Donnerstag gewesen. Und am Sonntag, am Vormittag,
ist der Hans gestorben, in Bludenz. Er hat einen Tumor gehabt. Und zu dieser
Zeit hat er bei meiner Ziehschwester unten, also bei seiner Schwiegermutter,
habe er auch den Namen gerufen. Und sie hat gesagt: „Ich habe ihn gekannt
an der Stimme.“ Und das ist mir danach auch in den Sinn gekommen.
MN ♀, geboren 1917:
I: Und haben Sie vielleicht irgendwelche Erinnerungen an … dass man damals
sehr abergläubisch war? […] Hat man daran geglaubt, dass jemand irgendwie
jemanden verwünschen kann oder so?
MN: Nein, das haben wir nicht. Abergläubisch sind wir nicht gewesen. Aber
… aber dass sich Tote melden, das haben wir schon …
I: Ja? Haben Sie das einmal erlebt? Oder erzählt bekommen?
MN: Das haben wir erlebt, wo mein Bruder gefallen ist. Der andere Bruder,
wo noch da gewesen ist, der hat … das ist ja im Februar. Der ist am 23. Feb-
ruar gefallen. Und kurz vorher haben sie in den Schulen „Kohleferien“ gehabt.
Die haben keine Kohle mehr gehabt zum Heizen. Und das hat dann wieder
„Kohleferien“ gegeben. Und der ist da in Gaschurn Lehrer gewesen, und ist
511 im Kinderwagen.
512 Da gibt es gar nichts daran zu rütteln.
513 im Schlafzimmer drinnen.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439