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da halt bei uns heraußen zu den Eltern gekommen. Dann haben wir in der
Küche, haben wir „z’Maren’ gässa“514, und Kaffee getrunken halt. Und da ist
jemand zur Haustüre herein gekommen und in die Stube hinein. Alle vier
haben wir es gehört. Und niemand ist zurück gekommen danach. Sagt der
Bruder zu mir: „Geh schauen, wer da in die Stube hinein ist.“ Bin ich schauen
gegangen. Es war niemand drinnen. Und hat er gesagt: „Es ist doch jemand
hinein gegangen, schau richtig. Vielleicht hat es sich versteckt.“ [lachen] Und
danach habe ich noch einmal geschaut, und es war halt niemand da. Da
haben wir schon uns so ein bisschen angeschaut und gedacht: „Was ist jetzt
das gewesen? Und das wird so vielleicht 14 Tage, bevor er dann gefallen ist.
Das haben wir halt alle, alle vier haben es gehört. Und später dann immer
gesagt, „ja, ja, der hat sich da gemeldet.“
RR und MN betonen mehrmals in den Ausschnitten, dass die erzählte Begeben-
heit tatsächlich wie beschrieben vorgefallen sei, und dass es an der Tatsache, dass
Geister manchmal einen bevorstehenden Tod ankündigen, „nichts zu rütteln“ gäbe.
Beide ErzählerInnen bauen in ihrer Geschichte einen Spannungsbogen auf, indem
sie die Situation beschreiben, in der sie sich befanden, und die Verwunderung der
Anwesenden (MN mithilfe eines Dialoges) eingehend beschreiben.
Eine beliebte Spielart von Geistergeschichten in den lebensgeschichtlichen
Erzählungen ist, den Spuk aufzuklären, indem zunächst das mystische Phänomen
beschrieben wird, um es anschließend als profane Verwechslung zu entlarven.
Die 1904 geborene EV beschreibt beispielsweise unheimliches nächtliches Klap-
pern am Haus – als sie sich jedoch allein auf die Suche nach der Ursache macht,
entdeckt sie einen aufgrund eines losen Nagels klappernden Fensterflügel. Derlei
entlarvende Geschichten attestieren den ErzählerInnen implizit Mut und Ratio-
nalität – während Geistergeschichten ohne „Auflösung“ vor allem Spannung und
Verwunderung bei den Zuhörenden bewirken sollen.515
Dass Mystik und Aberglauben eine Rolle im Leben der Menschen im 20. Jahrhun-
dert spielten, geht aus den lebensgeschichtlichen Erzählungen auf mehreren Ebe-
nen immer wieder hervor. Rätselhafte Begebenheiten sind schon aus Gründen der
Unterhaltsamkeit ein beliebtes Thema in den Geschichten, aber auch in Berichten
über landwirtschaftliche Praktiken oder unheilbare Krankheiten kommen immer
wieder unerklärliche Phänomene zur Sprache. Der 1938 geborene ZZ spricht im
nachfolgenden Ausschnitt den Erzählstoff von den Montafoner WunderheilerIn-
nen an, die vom Wespennester-Bannen bis hin zur Heilung des Viehs über große
Distanzen hinweg den Menschen ein beachtliches Repertoire an Dienstleistungen
anboten:
ZZ: Eine Frau, das ist die HV, das war bei uns Kindern auch immer ein biss-
chen eine Sensation. Eine ältere Frau, die ist 1894 geboren und die hat immer
514 Jause, Abendbrot gegessen.
515 Bausinger: Strukturen des alltäglichen Erzählens. S. 252.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439