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418 EV ♀, geboren 1904:
I: Und eine Landwirtschaft hat man immer nebenbei geführt, oder?
EV: Ja, da haben die Frauen auch ziemlich herhalten müssen. Da bei den
Händlern, da haben die Frauen gehörig herhalten müssen. Ich weiß noch, die
Mama auch, ich glaub der Vater, ich glaub nicht, dass er eine Kuh hätte richtig
füttern können. [EV und I lachen] Die wär entweder verhungert oder knietief
im Heu gestanden. [EV und I lachen] Jaja.
I: Das haben die gemacht, die zuhause geblieben sind.
EV: Ja, das haben die Frauen gemacht, die Schwiegermutter hat’s aber noch
schlimmer gehabt. Die hat noch einen Hof und ein Kind gehabt nebenbei. Die
Mama hat wenigstens nicht mehr viel Kinder gehabt. Da ist er klüger gewesen
der Vater. Der Vater hat aufgepasst. Ja, zwischen drinnen ist glaub ich eine
Fehlgeburt gewesen, zwischen uns Schwestern.
TGs eindrucksvolle Erzählung beschreibt, wie in den 1920er und 1930er Jahren
offenbar Witwen besonders häufig Opfer von Diebstählen wurden. Als Beispiel
nennt er seine Mutter, der unter anderem Wäsche und Bretter entwendet wurden,
sowie eine Bekannte, der ein Elektromotor gestohlen wurde. Der Erzähler stellt
die Frauen als bemitleidenswerte Opfer dar: „Ist sowieso schon eine arme Haut,
und dann geht ein Teil noch stehlen, dieser Frau.“ Seine bedauernde Perspektive
auf Frauen bezieht sich vor allem auf die Tatsache, dass diese keinen Mann mehr
an ihrer Seite hätten: einerseits seien sie verwitwet und andererseits würden sie
nicht mehr respektiert, weil man sich vor ihnen nicht fürchtete. Inwiefern diese
Interpretation den historischen soziokulturellen Verhältnissen gerecht wird oder
wie groß hier der Anteil der persönlichen Weltanschauung des Erzählers ist, kann
in diesem Rahmen nicht festgestellt werden. Das Bild von der Frau ohne Mann
als ständiges Opfer wird in den lebensgeschichtlichen Erzählungen immer wieder
transportiert.
LL beschreibt im Ausschnitt ihre persönlichen Erfahrungen als alleinerzie-
hende Mutter im Montafon der 1950er und 1960er Jahre. Als Ausländerin ohne
soziales Netzwerk wurde ihr zunächst geraten, das Kind wegzugeben, um arbeiten
und leben zu können – was LL allerdings ablehnte. Diese Angst, das Kind als ein-
zige Bezugsperson weggeben zu müssen, spricht die Erzählerin in ihrer lebens-
geschichtlichen Erzählung immer wieder an, so auch im obigen Ausschnitt: „Ja
ich mach es halt so lange ich es machen kann. Aber das Kind gebe ich nicht her.“
Dieser Satz zeigt, dass die Frau offenbar häufig am Ende ihrer Kräfte war, nachdem
sie ständig die Doppelbelastung der harten Arbeit und der Verantwortung für ihr
Kind erfuhr, und dabei auf sich gestellt war. Männer(-bilder) spielen in LLs Erzäh-
lung kaum eine Rolle – außer vielleicht jene der unerbittlichen Autoritäten, wie
dies auch im obigen Ausschnitt deutlich wird.
EV schließlich gibt ein Beispiel für eine sehr verbreitete musterhafte Erzählung,
in der sie aufzeigt, wie umfassend die Arbeitsbereiche der Frauen und wie hoch
die Mehrfachbelastungen durch Landwirtschaft, Familie, Haushalt und eventu-
elle andere Erwerbstätigkeiten waren. Typischerweise stellt EV die für die Frau-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439