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von Erzählstoffen wird vor allem vor dem Hintergrund ihres Unterhaltungswertes
ausgewählt, dazu zählen insbesondere Lausbuben- und Schulgeschichten, sowie
Schmuggler- oder Wilderergeschichten.
Drittens verfolgen die allermeisten Geschichten den Zweck der Selbstdarstel-
lung der ErzählerInnen. Vor allem in jenen Erzählungen, in denen die Zeitzeu-
gInnen selbst eine zentrale Rolle spielen, rücken sie die eigene Person stets in ein
gewisses Licht – sei es jenes einer fleißigen, arbeitsamen Pflichterfüllerin, sei es
jenes der klugen, kritischen, zurückhaltenden Stimme oder auch das eines muti-
gen Draufgängers. Gerade bei den oben erwähnten Lausbuben-, Schmuggler- und
Wilderergeschichten, aber auch bei den Erzählungen von Krieg, Desertion oder
der beruflichen Karriere bemühen sich die ErzählerInnen immer um eine entspre-
chende Inszenierung der eigenen Person.
Viertens prägt die (vermutete) Erwartungshaltung des Gegenübers im Inter-
view die Auswahl der Erzählstoffe. So ist festzustellen, dass die ZeitzeugInnen über
weite Strecken vor allem von jenen Themenbereichen berichten, die sie als typisch
erachten: typisch für die Region Montafon, typisch für die jeweilige Zeit, typisch
für die eigene Familie. Erzählungen von Andersartigkeit oder Ausnahmesituati-
onen sind selten. Die ErzählerInnen bemühen sich in ihrer ZeitzeugInnen-Rolle
einerseits um größtmögliche Repräsentativität ihrer Aussagen und zeichnen damit
ein konstruiertes Bild der Region, des 20. Jahrhunderts, ihrer Biografie. Dass sich
die ErzählerInnen manchmal bemühen, die Ausnahme von der Regel oder das
Untypische aufzuzeigen, ist schließlich zentraler Bestandteil des Bewertungssche-
mas „Typisch-Untypisch“, „Eigen-Fremd“, „Normal-Außerordentlich“.
Erzählstoffe, die einen besonders hohen Stellenwert für die ErzählerInnen haben,
manifestieren sich mitunter als Leitlinien, die die lebensgeschichtlichen Darstel-
lungen über weite Strecken hin strukturieren. So erweisen sich etwa Erzählungen
vom Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft häufig als Leitlinien in den
biografischen Erzählungen, wenn beispielsweise der Wandel in der landwirtschaft-
lichen Arbeitsweise oder die Veränderung der Kulturlandschaft angesprochen
werden. Das positive Äquivalent zur Leitlinie vom Niedergang der Berglandwirt-
schaft ist der Erzählstoff der Modernisierung bzw. Technisierung der traditionel-
len Lebensweise. Auch dieser Erzählstoff hat in vielen Darstellungen den Stellen-
wert einer Leitlinie. Ein konkretes Beispiel hierfür sind erzählerische Leitlinien,
die die Anschaffung von elektrischen Haushaltsgeräten, Fahrzeugen oder ande-
ren Konsumgütern zum Inhalt haben. Lohn-Preis-Leitlinien schließlich stellen
die Entwicklung der finanziellen Abgeltung von Leistung in den Vordergrund,
nicht selten werden Löhne mithilfe ihres Einkaufsgegenwerts verbildlicht, wenn
etwa aufgezeigt wird, was man sich zu welcher Zeit jeweils für seinen Monatslohn
leisten konnte. Weitere wichtige Leitlinien sind beispielsweise Erzählungen von
Urlaubsreisen, aber auch Behinderungen oder Krankheiten können individuelle
Leitlinien darstellen. Die wichtigsten Leitlinien lebensgeschichtlicher Erzählungen
allerdings sind das Thema Wandel im 20. Jahrhundert einerseits und der Erzähl-
stoff der Arbeit und Arbeitsamkeit andererseits. Auf diese beiden Erzählstoffe soll
nachfolgend nochmals detaillierter eingegangen werden.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439