Seite - 434 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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434 tion seitens der InterviewerInnen niemals Vorwürfe oder Kritik am Verhalten der
Gewährsleute ausgesprochen. Die ErzählerInnen rechtfertigen sich dennoch per-
manent, indem sie etwa ihre Handlungsweise als alternativlos verteidigen, histo-
risch belegte Fakten in Frage stellen oder ihr Unwissen etwa über NS-Verbrechen
beteuern.
In Bezug auf die Erzählungen vom Krieg an der Front können ebenfalls Muster
in den Darstellungen festgestellt werden. Hier bleibt in der Regel die eigene Täter-
schaft völlig unerwähnt, Erzählungen vom Töten (geschweige denn von Aktionen,
die heute als Wehrmachts-Verbrechen gut dokumentiert sind) stellen ein Tabu dar,
über das die ZeitzeugInnen nicht sprechen. Das Tabu wird einzig dann gebrochen,
wenn von den deutschen Soldaten – und hier besonders der SS – und ihrem bru-
talen Vorgehen im Krieg gesprochen wird. Vorzugsweise wird vom Handeln bzw.
dem Fehlverhalten anderer berichtet. Auch hier stellte die junge InterviewerIn-
nengeneration mit Sicherheit ein Hemmnis für unbefangenere Darstellungen dar.
Darüber hinaus kann vermutet werden, dass die lange Zeit, die zwischen Ereignis
und lebensgeschichtlicher Erzählung liegt, dem Verdrängen und Abändern der
Erinnerungen Vorschub leistete, und die ErzählerInnen – neben einem gewis-
sen Unwillen, mit bestimmten Erinnerungen konfrontiert zu werden – sich eines
Unterschlagens von pikanten Details manchmal gar nicht bewusst sind.
Eine im Großteil der Erzählungen angewandte Strategie, die Herausforderung
des Sprechens über den Zweiten Weltkrieg, seine Bedeutung und seine Folgen zu
meistern, ist die Darstellung der eigenen Person als Opfer. Diese Opferrolle, die
sich die ErzählerInnen dabei selbst zudenken, ist umfassend und vielseitig: Sie
beginnt bei den Feststellungen, um die eigene Jugend beraubt worden zu sein,
keine Ausbildung gemacht haben zu können und geliebte Familienangehörige im
Krieg verloren zu haben, und setzt sich fort bis hin zu den Kriegsbeschreibungen.
Auch hier waren die Soldaten vor allem Opfer: Keiner der Erzähler geht darauf ein,
auch selbst getötet zu haben, die Zeitzeugen sprechen von ihren Verletzungen und
Entbehrungen und schließlich davon, gejagt und gefangen genommen worden zu
sein. In Bezug auf die wirtschaftlich und auch sozial schwierigen Nachkriegsjahre
setzt sich dieser Opferstatus fort, der nicht nur eine erzählerische Strategie dar-
stellt, über die Jahre 1938–1955 und die eigenen Erlebnisse sprechen zu können,
sondern anzunehmenderweise auch zeitlebens eine Strategie war, mit den Ereig-
nissen und Erlebnissen der Kriegs- und Nachkriegsjahre leben zu können.
Schließlich muss noch die erzählerische Strategie erwähnt werden, verschie-
dene Aspekte des Nationalsozialismus getrennt voneinander zu bewerten: So wird
etwa die NS-Sozial- und Arbeitspolitik lobend erwähnt, während Völkermord und
Kriegstreiberei abgelehnt werden. In den Darstellungen manifestiert sich diese
Strategie als ambivalente „Einerseits-Andererseits“-Erzählung.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die ZeitzeugInnen darauf achten,
dass ihr Handeln niemals als unmoralisch bewertet werden kann und sie selbst
letztendlich aus ihren Darstellungen als Sieger oder HeldInnen hervorgehen. Das
wird in den Kapiteln über Krieg und Gefangenschaft besonders deutlich, wo tabu-
isierte Themen wie Töten oder Kriegsverbrechen völlig unerwähnt bleiben, wäh-
rend die eigenen Leiden und eine (fast heldenhafte) Leidensfähigkeit in den Vor-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439