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mahnte die Ergründung der materiellen Produktivität von Diskursen ein63,
sondern auch die Cambridge School berücksichtigte bei der Textanalyse den
außersprachlichen Kontext.64 Dass es gerade einer der besten Kenner der
österreichischen Zeitgeschichte war, Ernst Hanisch nämlich, der die Be-
fürchtung aussprach, durch die synchronen Zugangsweisen verliere die Ge-
schichtswissenschaft ihre Wissenschaftlichkeit65, ist ein Grund, die Studie
auch als methodisches Exerzierfeld zu deklarieren.
2.2 Literarische und autobiographische Texte
Goethes berühmtes Wort, alle Dichtungen seien „nur Bruchstücke einer gro-
ßen Konfession“, lebt in der Überzeugung weiter, dem fiktionalen Diskurs
sei als Quelle für politische Befunde dieselbe Qualität zu bescheinigen wie
dem historischen.66 Sehr ernst zu nehmen ist die Option, jeden Text in gewis-
sem Sinne autobiographisch zu lesen.67 Hier wird eine extreme Variante des
linguistic turn angesprochen, die zwischen Faktischem und Fiktivem keinen
Unterschied mehr kennt und – mit Lucien Febvre – die Sprache als Stütze
betrachtet, mit deren Hilfe die Menschen denken.68
Noch weiter gehen jene, die die Fiktion dem Tatsachenbericht hierar-
chisch überordnen, als Mittel verstehen, Grundwahrheiten des Lebens dar-
zustellen, eben Dichtung für Wahrheit halten.69 Goethes Autobiographie,
auf die diese Begriffe rekurrieren, rät vom Anspruch, die Vergangenheit
„mit detektivischem Ehrgeiz“ rekonstruieren zu wollen, ab, die Grundaus-
sagen vorwegnehmend, die der amerikanische Historiker und Literaturwis-
senschafter Hayden White in seinem 1986 ins Deutsche übersetzten Buch
Auch Klio dichtet niederlegte.70 Die sowohl als autobiographische Schrift-
stellerin als auch als Germanistin tätige Ruth Klüger hat die spezifischen
Leistungen des Wissenschafters und des Dichters nicht anders beschrieben
als einst Aristoteles: Jener handle vom Besonderen, dieser vom Allgemei-
nen, dem letztendlich Bedeutenderen.71 Als prominenter Vertreter der ös-
63 martschuKat, Diskurse, 75.
64 raPhael, Diskurse, 171.
65 hanisch, Die lingustische Wende, 212 f.; martschuKat, Diskurse, 70.
66 andres, „Politik“, 341; hellmuth/von ehrenstein, Intellectual History, 149; noiriel, Die
Wiederkehr, 366.
67 hincK, Selbstannäherungen, 7–9; waGner-eGelhaaf, Autobiographie, 8 f.
68 iGGers, Zur „Linguistischen Wende“, 559–561.
69 landwehr, Historische Diskursanalyse, 161; waGner-eGelhaaf, Autobiographie, 3.
70 hincK, Selbstannäherungen, 8.
71 KlüGer, Gelesene Wirklichkeit, 71. 2. ZUR
METHODE52
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580