Seite - 213 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Bild der Seite - 213 -
Text der Seite - 213 -
5.2 Individualität versus Individualismus
1934 sah Johann Staud in Österreich Ansätze einer Aufwertung der Indivi-
dualität der Person als Alternative zum Individualismus des liberalen Zeit-
alters.19 Während der Gewerkschafter den Begriff „Person“ nicht vertiefte,
stand er bei Karl Lugmayer an zentraler Stelle. Gleichwohl hat dieser Den-
ker in der jenseits regionaler Forschung betriebenen Philosophiegeschichte
bislang wenig Aufmerksamkeit erhalten. Sein seit den zwanziger Jahren
entwickeltes und später in großen Arbeiten, insbesondere in Sein und Er-
scheinung20, niedergelegtes sozialphilosophisches Konzept war geprägt vom
Glauben an ontologische Grundprinzipien von Politik und Geschichte.21 In
Philosophie der Person (1956) hob Lugmayer die Person von allen physio-
logischen und psychologischen Erscheinungen ab.22 Der Mensch sei vorab
Geistwesen, das sich in Freiheit und Verantwortung in der „Dreierordnung“
des Seins (Denken/Erkennen, Fühlen, Wollen) bewege; er werde aber auch
von der Welt der Erscheinung, der „Viererordnung“ (Zeit, Raum, Kraft, Ge-
setzmäßigkeit), beherrscht.23 Das Verhältnis zwischen Sein und Erscheinung
beschrieb Lugmayer, entsprechend dem zwischen Einheit und Vielheit, mit
dem Begriff der Ebenbildlichkeit, analogia.24 Er folgerte: „Eine Gesellschaft
hat umso mehr Wert, umso mehr Seinsbezug sie hat, […] je geeigneter sie
ist, ebenbildliches Verhalten ihrer Teile zu sichern.“25 Hier wird, und zwar
als apriorische Kategorie, der ordo zum Thema, eine zentrale Komponente
des Begriffs „Stand“, die sowohl für das große Ganze des Kosmos als auch für
die Gesellschaft relevant sei.26
Zwar betrachtete auch der Personalismus die Person als Individuum, doch
– um es mit Dietrich von Hildebrands Gesprächspartner Robert Spaemann27
zu sagen – nicht als Ausprägung eines Allgemeinen, etwa das Besondere,
sondern als das Allgemeine selbst. 28 Verallgemeinerung, Systematisie-
rung und Relativierung stießen bei diesem Verständnis von Individualität
19 staud, Berufsauffassung, 6.
20 hartl, Philosophie der Person, 59; F. luGmayer, Karl Lugmayer, 143.
21 bader, Karl Lugmayer, 11–18; tarmann, Die Personalität, 14 f., 47 und 115; F. luGmayer,
Karl Lugmayer, 35–37.
22 F. luGmayer, Karl Lugmayer, 150.
23 bader, Karl Lugmayer, 16 f.; hartl, Philosophie der Person, 60; F. luGmayer, Karl Lug-
mayer, 48; tarmann, Die Personalität, 48–52.
24 K. luGmayer, Sein I, 35 und 81.
25 K. luGmayer, Sein I, 119; vgl. tarmann, Die Personalität, 11.
26 GG 6 (1990), 156 (Stand/Klasse, O. G. oexle).
27 seifert, Dietrich von Hildebrand, 192.
28 härinG, Gesetz, 116; rotter, Person, 27–30; sPaemann, Personen, 29.
5.2 INDIVIDUALITÄT VERSUS INDIVIDUALISMUS 213
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580