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„Freiheit ist ein Ideal.
Demokratie ist ein Prinzip.
Parlamentarismus ist eine Methode.“
Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi1
4. DIE POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHE LAGE IN DER
WAHRNEHMUNG BÜRGERLICHER KREISE
In bürgerlichen Kreisen wurde Gemeinwohl in der Zwischenkriegszeit „ire-
nisch“ aufgefasst.2 Dieser Begriff ist in dem Sinn zu verstehen, den ihm spä-
ter Alfred Müller-Armack verlieh, nämlich als um Bewältigung des Konflikts
bemühte Art, wie Vertreter unterschiedlicher Weltanschauungen mitein-
ander umgehen sollten. Die Verwischung von Gegensätzen oder das unbe-
dachte Vermengen von nicht Vereinbarem war nicht gemeint, man schätzte
die Besinnung auf das je Besondere.3 „Falscher Irenismus“, so Dietrich von
Hildebrand, wäre nicht wünschenswert.4
In den Äußerungen vieler Konservativer der Zwischenkriegszeit kommt
häufig ein prinzipiell skeptisches Menschenbild zum Ausdruck.5 In Max
Schelers Werken schwingt das Gefühl mit, in einer Zeit des Werteverfalls zu
leben.6 Viele teilten die Auffassung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß,
nach dem Ersten Weltkrieg sei nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch
ein geistig-seelischer Zusammenbruch erfolgt7, und empfanden die 1918/19
geschaffene Ordnung als revolutionär.8 Eine in den folgenden Jahren ein-
setzende „totale Verwilderung der politischen Sitten“ (E. Hanisch)9 nährte
die Furcht vor dem Verlust von Bewährtem; mitunter steigerte sich diese
zu existentieller Angst. Aber es bestand auch der Wunsch, auf das Versagen
der bestehenden Ordnung zu reagieren. Viele fanden ihr Ideal in der Ord-
nung vor der Französischen Revolution10, die nunmehr durch Individualis-
1 coudenhove-KalerGi, Totaler Mensch, 49.
2 GauGer, Gemeinwohl, 97.
3 Quaas, Idee, 209 f.
4 noser, Die historische Tragik, 230.
5 PelinKa, Die politische Theorie, 18; senft, Glanz, 15.
6 Kiss, Max Schelers „Umsturz der Werte“, 130 und 136; PöGGeler, Max Scheler, 146; schnei-
der, „Vorbilder“, 180 und 185.
7 dollfuss an österreich, 24.
8 busshoff, Dollfuß-Regime, 24.
9 hanisch, Der lange Schatten, 318.
10 bohn, Ständestaatskonzepte, 113.
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580