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wohl blieben die skeptischen Stimmen auf der theoretischen Ebene in der
Minderzahl. Erwähnt sei aber Friedrich Funder, für den es einen Mangel
an „vaterländischer Erziehung“ bedeutete, dass es nur Tiroler, Salzburger,
Kärntner [...] Patriotismus und nur mittelbar einen österreichischen gäbe.982
Auch Viktor Kienböck bedauerte, dass das auf die Länder bezogene Heimat-
gefühl stärker sei als der allerdings gleichwohl vorhandene Österreichpat-
riotismus; die Republik sei noch nicht Symbol der Zusammengehörigkeit.983
Richard Schmitz lehnte in seinem Kommentar zum Parteiprogramm der
CSP von 1926 eine „Provinzialisierung“ ausdrücklich ab.984
Auch der Nexus zwischen Patriotismus und ständischem Gedanken war
nicht für alle selbstverständlich. Oskar von Hohenbruck sprach 1930 ganz
unverhohlen aus, den Tirolern sei die Landesbürgerschaft wichtiger als die
Bundesbürgerschaft, und er verheimlichte nicht, welche der in der Gesamtthe-
matik einander überlagernden Kategorien für ihn die wichtigere war: „Wir
werden uns deshalb unsere Landesautonomie nicht auf dem Wege des Stän-
destaates rauben lassen. [...] Unsere Bauern dürfen nie in den Zwiespalt ge-
bracht werden, ob sie mehr Tiroler oder mehr Bauern sind.“985 Der Bauern-
bundfunktionär hatte für Interferenzen von Landes- und Standesbewusstsein
einen scharfen Blick: Im Bauernstand sei der Gedanke der örtlichen Selbst-
verwaltung tief verwurzelt, während bei Beamten und Arbeitern die Berufs-
zugehörigkeit Vorrang habe. „Ortsgebundene Stände“, sollten auf die lokale
Verwaltung mehr Einfluss haben als die Vertreter der vom Wohnsitz unabhän-
gigeren Berufe. Andererseits gäbe es wirtschaftliche Überlegungen, aufgrund
deren die Stände über die Grenzen der Länder hinauswachsen müssten.986
6.8 Österreichbewusstsein versus Nationalsozialismus
Das Trauma von Saint-Germain und die Frage des „Anschlusses“ an das
Deutsche Reich
Für viele Zeitgenossen war der Zerfall der Monarchie eine traumatische Er-
fahrung. Ludwig Adamovich vermochte diese bis ins fortgeschrittene Alter
nicht zu verdrängen987; nicht minder schwer fiel es Lois Weinberger988, Ru-
982 reiss, Dr. Friedrich Funder, 154 f.
983 KienböcK, Sanierungswerk, 9 f.
984 tálos, Handbuch, 480 f. (H. haas).
985 v. hohenbrucK, Zur Frage, 17 f.
986 v. hohenbrucK, Zur Frage, 16–19.
987 adamovich, (Selbstdarstellung), 12.
988 KarlicK, Lois Weinberger, 20. 6.
STANDESBEWUSSTSEIN396
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580