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„Brüderlichkeit allein versöhnt Freiheit mit Gleichheit.“
Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi1
7. DIE BERUFSSTÄNDISCHE ORDNUNG
Dass ständisches Denken weit reicht, den ganzen Menschen erfasst, haben
die bisherigen Ausführungen gezeigt. Es sind aber auch die Schwierigkeiten
sichtbar geworden, den Begriff „Stand“ zu definieren. Jene, die sich auf „Be-
rufsstand“ festlegten, taten dies nicht, weil sie darin den Stand als solchen
gesehen hätten, sondern weil der Berufsstand die einfachste Möglichkeit
zu bieten schien, die Politik zu beeinflussen. Anton Klotz erwartete sich die
Verwirklichung des Prinzips der Ordnung und Harmonie, das den Menschen
erst fähig mache, sich in die größeren Lebenskreise einzuordnen.2 Bewusst
oder unbewusst folgte man Othmar Spann, der es für wahrscheinlich hielt,
dass Stände dazu beitrügen, die Massen zu „entmassen“ – für ihn ein ent-
scheidender Beitrag zur Bewältigung der Krise der Zeit.3 Diese Überlegung
erwies sich insoweit als richtig, als die Berufsstände teilweise tatsächlich
stilbildend wirkten und ein spezifisches Standesbewusstsein schufen.4
7.1 Vorläufige Begriffsbestimmung
Außer der Familie und der Nachbarschaft/Gemeinde, nach dem Linzer Pro-
gramm der christlichen Arbeiterbewegung von 1923 der „Siedlung“, auf
höherer Ebene sich wiederholend in Nation, Land oder Reich, nannten die
Kritiker des Parteienstaates die Berufsgemeinschaft als Bezugspunkt für
den als Person gewürdigten Menschen.5 Ignaz Seipel wünschte einen Staat,
der „nicht unmittelbar aus zusammenhanglosen Individuen bestehe, die in
der Theorie alle gleich, in Wirklichkeit aber doch recht ungleich sind“, son-
dern seine Bürger „auf dem Umweg über ihre Familien und Berufsstände“
1 coudenhove-KalerGi, Totaler Mensch, 7.
2 KlotZ, Sturm, 43.
3 H. walter, Ständewesen, 107–111 und 277–282.
4 hanisch, Konservatives und revolutionäres Denken, 216; KrüGer, Demokratisches und
ständisches Denken, 331.
5 KlotZ, Sturm, 41; R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 23 und 25; CS 3. 6. 1934
(K. luGmayer); vgl. brineK, Arbeiter, 102; diamant, Katholiken, 198 f. und 202; hasiba, Der
berufsständische Gedanke, 111; huber, Die Verfassung, 16; KrüGer, Demokratisches und
ständisches Denken, 341; LThK/I 9 (1937), 692–696 (G. Gundlach); PelinKa, Stand, 240.
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580